Aus dem Editorial

Januar 2026, 360 Seiten, hier zum Download.
Es sind oft die unspektakulären Räume – das Klassenzimmer einer freien Schule, die Strukturen einer basisdemokratischen Gruppe, das Miteinander in persönlichen Beziehungen oder die alltägliche Improvisation widerständiger Gemeinschaften –, in denen neue Formen des freiheitlichen und solidarischen Zusammenlebens entwickelt werden. Überall dort, wo Menschen Hierarchien in Frage stellen, Verantwortung teilen und Autonomie im gemeinsamen Handeln erproben, gewinnt die Idee einer gelebten Anarchie Konturen: nicht als abstraktes Ideal in ferner Zukunft, sondern als reale und greifbare Möglichkeit. Mit den Anforderungen, die sich daraus für unser Denken und Handeln ergeben, beschäftigen sich die Beiträge unserer neuen Winterausgabe: espero, Nr. 12.
An der Frage der Alltagstauglichkeit des Anarchismus setzt auch der Leitbeitrag von Siegbert Wolf an. Seine Analyse der gegenwärtigen Bewegung ist nüchtern und aufrüttelnd zugleich. Er beschreibt den Zustand der deutschsprachigen anarchistischen Szene als „miserabel und desaströs“ und kritisiert ihre gesellschaftliche Isolation sowie den Mangel an praxistauglichen Perspektiven. Sein Weckruf gipfelt in der Forderung, „die anarchistischen Essentials in der grundlegenden Grammatik des sozialen Lebens zu verankern“ und eine Veränderung der zwischenmenschlichen Beziehungen im Hier und Jetzt zu verwirklichen.

Eben dieser Herausforderung widmen sich auch die Beiträge des Themenschwerpunkts Anarchismus und Pädagogik. Das von Ulrich Klemm betreute Themenspecial mit Beiträgen von ihm selbst, Hans-Ulrich Grunder und Roy Danovitch greift die Tradition der libertären Pädagogik auf und zeigt – anhand historischer Beispiele und heutiger selbstorganisierter Projekte jenseits starrer Schulstrukturen –, wie herrschaftsfreie Lernräume entstehen können und was sie für eine Kultur der freien Entfaltung bedeuten. Die Beiträge machen deutlich, dass libertäre Pädagogik weniger eine didaktische Methode als eine Beziehungskunst ist: ein gemeinsames Lernen, getragen von Solidarität, Verantwortung und Freiheit.
Um eine solche Bildungspraxis zu ermöglichen, bedarf es neuer Organisationsformen, die auch über die Pädagogik hinaus traditionelle Hierarchien infrage stellen. Genau dies thematisiert Jochen Schmück in seinem Beitrag, in dem er das Leben und Werk des niederländischen Pädagogen und libertären Pazifisten Kees Boeke beleuchtet. Er zeigt, wie Boeke – geprägt von christlich-anarchistischen Ideen – mit der Werkplaats Kindergemeenschap ein Experiment gelebter Anarchie initiierte. Das dabei von ihm entwickelte libertäre Modell der Soziokratie konkretisiert Methoden der Selbstorganisation, die veranschaulichen, wie präfiguratives herrschaftsfreies Handeln bereits heute jene Beziehungen einüben kann, die in Zukunft die freie Gesellschaft tragen werden.

Mitglieder des Anarchistischen Arbeiter-Bundes
in West-Berlin um 1971.
Die Frage nach einer im Alltag wirksamen anarchistischen Praxis stellt auch Rolf Raasch in seiner Untersuchung des Neoanarchismus zwischen 1965/68 und 1989/90. Er zeichnet nach, wie Hierarchiekritik, Dezentralität und radikale Demokratie „durch die Hintertür“ in die Neuen Sozialen Bewegungen gelangten und dort weniger als umfassende Theorie denn als alltägliche Praxis der Selbstbestimmung wirksam wurden. Anarchismus erscheint hier als Korrektiv gesellschaftlicher Verhältnisse – und als ständige Herausforderung, neue bürokratische Apparate zu vermeiden und lebbare libertäre Alternativen nicht zu vernachlässigen.
Von politischen Bewegungen führt der Blick zu den persönlichsten Sphären unseres Zusammenlebens. Dass auch in ihnen anarchistische Impulse wirksam sind, zeigt Lena Rothwinkler in ihrem Beitrag über Beziehungsanarchie. Dabei geht es nicht um exzentrische Nischen, sondern um ein bewusstes Herauslösen aus dem normativen „Beziehungsrolltreppenkarussell“.

CC-Lizenz, Wikimedia, 2024.
Das frei ausgehandelte, enthierarchisierte Miteinander, zu dem Beziehungsanarchie einlädt, beruht auf einer Ethik der Gegenseitigkeit, der Fürsorge, Sensibilität und Aufmerksamkeit.
Die Suche nach alternativen Lebensformen hat eine lange, widerständige Geschichte. Daran erinnert uns Kyrosch Alidusti in seinem Beitrag über Erich Mühsam. Für Mühsam waren Angehörige von Subkulturen – Boheme, Vagabunden, Landstreicher:innen, Huren, der „Fünfte Stand“ – nicht Randfiguren, sondern Pioniere einer kommenden Kultur. Ihre Not führe sie zur Erkenntnis, „dass eine frohe Welt erkämpft werden muss“. Mühsams solidarisches Interesse an ihren Lebensentwürfen knüpfte an den Siedlungsideen von Gustav Landauer an. Es zeigt, wie eng libertäre Traditionen mit marginalisierten Gemeinschaften verbunden sind.
Die Verflochtenheit von antikolonialem Widerstand und anarchistischem Denken führt uns der Beitrag von Gaya Makaran und Cassio Brancaleone vor Augen. Autonome indigene Gemeinschaften wurden von kolonialen und nationalen Eliten als „anarchisch“ diffamiert, gerade weil sie staatliche Ordnung und Kontrolle verweigerten. Makaran und Brancaleone heben hervor, dass Anarchismus in seinem Kern antikolonial und antirassistisch ist – ein radikaler Gegenentwurf zu Staat und Kapital. Ihr Ansatz skizziert ein konsequent dekolonisierendes Verständnis von Anarchismus, das starre identitäre Kategorien hinter sich lässt und alltägliche Praktiken der Autonomie jenseits staatlicher Vereinnahmung stärkt.
Abgerundet wird diese Ausgabe durch Buchempfehlungen zu aktuellen Neuerscheinungen und einen Filmtipp. Auch sie stehen auf je eigene Art für die Einsicht, dass eine humane und selbstbestimmte Zukunft nur durch den mentalen Gehalt der Hoffnung und durch unser gemeinsames Handeln in der Welt entstehen kann.
Wir wünschen unseren Leser:innen eine anregende Lektüre!
Die espero-Redaktion.