Anarchistische Gesellschaftsentwürfe. Zwischen partizipatorischer Wirtschaft, herr­schaftsfreier Vergesellschaftung und kollektiver Entscheidungsfindung

Herausgegeben von Thomas Stölner, Gözde Ukcu und Uwe H. Bittlingmayer, Münster: Unrast, 2023, ISBN: 978-3-89771-369-7, 468 Seiten, 24,80 €.

Jenseits von Staat und Kapital: Anarchistische Visionen einer gerechten Gesellschaft

Das Buch Anarchistische Gesellschaftsentwürfe vom Unrast-Verlag ist im Oktober 2023 erschienen und präsentiert auf rund 450 Seiten verschiedene Denkansätze zu anarchistischen Gesellschaftsmodellen als Gegenstück zu dem als toxisch identifizierten modernen, kapitalistisch ausgerichteten Staatssystem. Das Werk zeigt eine schillernde Bandbreite von Ideen anarchistisch denkender Menschen, vorwiegend aus dem Bereich der Wissenschaft und Publizistik, aber auch aus der künstlerischen Szene und der aktivistischen Basis. Diese Vielfalt ist eine Stärke und sorgt für Abwechselung und Perspektivenreichtum bei der Lektüre der 27 verschiedenen Beiträge des Buches.

Ich selbst schreibe hier als studierter Sozialwissenschaftler, wobei ich mich allerdings bisher nie tiefergehend mit dem Thema Anarchie beschäftigt habe. Dies ermöglicht aber vielleicht eine Rezension aus einer gewissen Distanz heraus. Meine Ausführungen sind zudem durch meine persönlichen Interessen und Vorerfahrungen geprägt, und man verzeihe mir daher, wenn nicht jeder Aspekt die entsprechende Würdigung erhält.

Das vorliegende Buch beginnt und schließt mit Beiträgen von Konstantin Wecker, den man als Musiker, Schauspieler und Autor kennt, und der in seinen Liedern seit jeher sozial- und gesellschaftskritische Töne anschlägt. Er selbst bezeichnet sich hier als „Künstler und alter Anarcho“ und sieht es als eine Verantwortung der Intellektuellen bzw. als „nachdenklicher Mensch“ in diesen „schrecklichen Zeiten“ dazu beizutragen, etwas Besseres zu gestalten (S. 9). „Denn nur eine sozial gerechte Welt solidarischer Menschen wird uns von Kriegen, Klimawandel, Rassismus,Patriarchat und Kapitalismus befreien.“ (S. 13). Damit trifft er den Grundtenor des Buches und kommt der selbstgestellten Aufgabe mit zwei theoretischen Beiträgen und zwei Songtexten in diesem Buch nach.

Das einleitende Kapitel der drei Herausgebenden entwickelt zunächst die wesentlichen Punkte, um die es in dem Werk geht: Sie beginnen mit der These, dass die gegenwärtigen Nationalstaaten sich in mannigfaltigen Krisen befinden, z. B. da sich das wirtschaftlich-soziale „Glücksversprechen“ an ihre Bevölkerung nicht erfülle, sondern Ungleichheit und Profitorientierung das Allgemeinwohl behinderten. Ferner würden die zahlreichen weltweiten Konflikte, und nicht zuletzt der aktuelle Krieg in der Ukraine, beweisen, dass Frieden mit den gegenwärtigen Konzepten nicht dauerhaft erreichbar ist. Schließlich bedrohe die ökologische Krise die Lebensgrundlage der Menschen. Als eine wesentliche Ursache dieser Krisen wird die kapitalistische Form des Wirtschaftens ausgemacht und kritisiert, dass Einwände gegen diese Wirtschaftsform stets hart bekämpft und verunglimpft würden. Als Lösung der beschriebenen Probleme wird eine partizipatorische Ökonomie vorgeschlagen, vor allem die als Parecon bekannte Form, die bereits seit längerer Zeit im philosophischen und ökonomischen Diskurs über alternative Gesellschaftsmodelle erörtert wird und verschiedentlich aufgegriffen und weiterentwickelt wurde. Der theoretische Hintergrund und die praktische Umsetzung von Parecon werden als Schwerpunkt des Buches angegeben. Daher sind etwa die Hälfte der Beiträge dieses in drei Kern-Abschnitte aufgeteilten Werkes Parecon gewidmet.

Der erste Abschnitt startet mit Beiträgen der wohl bekanntesten Theoretiker und Begründer des Parecon-Konzepts Michael Albert und Robert Hahnel, die die Grundzüge des Modells erläutern. Die weiteren Beiträge, die sich im Wesentlichen mit den Möglichkeiten der praktischen Umsetzung von Parecon beschäftigen, sind anschaulich dargestellt und unterfüttern das wunderbar anmutende Gemälde einer Gemeinschaft, in der jeder ein gewichtiges Mitsprache- und Entscheidungsrecht genießt und wo gemäß dem tatsächlichen Bedarf Güter und Dienstleistungen sozial, gesundheitlich und ökologisch verträglich produziert bzw. geleistet werden. Die Organisation soll im Wesentlichen über Bürgerräte und – im größeren Kontext – deren direkt beauftragte Delegierte erfolgen. Es entfaltet sich mit jedem Beitrag ein zunehmend schärferes Bild, wie eine partizipatorische Wirtschaftsform praktisch funktionieren könnte. Sehr lobenswert ist, dass auch ein kritischer Text zum Parecon-Konzept von Simon Sutterlütti auf­genommen wurde, der dem Modell vorwirft, durch seine lohnbasierte Struktur zu nah am Kapitalismus zu sein. Auf diesen Beitrag wird wiede­rum direkt von Robert Hahnel geantwortet, wodurch ein lebendiger Diskurs entsteht.

Im zweiten Abschnitt des Buches, überschrieben mit Alternative Organisationen zur Überwindung überflüssiger sozialer Herrschaft, geht es in abwechselungsreicher Themenwahl um verschiedene Beiträge zur Untermauerung der Kernthesen des Buches und zu tragenden Aspekten gesellschaftlichen Zusammenlebens. Im Kapitel Nationalstaat und Moderne erfährt der Lesende beispielsweise, wie, wann und warum sich das Konzept des Nationalstaates weltweit durchgesetzt hat, und dass Menschen in einem Staat immer und grundsätzlich persönliche Freiheiten gegen Sicherheitsgarantien des Staates eintauschen. Der Autor sieht demgemäß eine wichtige Aufgabe darin, die Macht und potentielle Übergriffigkeit des Staates „einzuhegen“ (S. 252 f.).

Bernd Drücke versucht im nächsten Beitrag eine Annäherung an die Begriffe Anarchie und Anarchist und präsentiert einen historischen Abriss zu anarchistischen Aktivitäten in Europa. Hier erfährt man auch von anarchistischen Gedanken Goethes und Wissenswertes über die Entstehung und die Ideen der Graswurzelbewegung. Es folgen Beispiele historisch-ethnologischer Natur für alternative Gesellschaftsstrukturen aus feministischer und rechtlicher Sicht. Es wird u.a. die im anarchistischen Kontext grundsätzlich interessante Dichotomie von politischer Zwangsgewalt und Autorität erörtert und ein differenzierter Blick auf die Rolle der Geschlechter in historischen und (möglichen) künftigen Gesellschaften geworfen. In den drei letzten Kapiteln werden weiterführende produktive Gedanken von Johann Bergmann (zur Organisation von „Re-Produktion“), John Holloway (zur Unfähigkeit der Nationalstaaten Krisen zu meistern) und Jens Kastner (über Solidarität) zum Konzept herrschaftsfreier Gesellschaften entwickelt.

Im dritten, zugleich kürzesten Abschnitt des Buches geht es speziell um alternative Konzepte zur Entscheidungsfindung, als deren Grundlage ein möglichst herrschafts- und gewaltfreies Kommunizieren innerhalb einer Gruppe gesehen wird. Das omnipräsente Konzept der Konsensfindung wird von Christoph Besemer ausführlich dargestellt, während Zora Weber die Gemeinschaftsbildung nach Morgan Scott Peck als mögliches Modell für eine fruchtbare Kommunikation einbringt. Peter Seyferth geht der Frage nach der Rechtsdurchsetzung in anarchistischen Gruppen nach. Dabei werden verschiedene Modelle anarchistischer Konzepte zum Umgang mit ungewolltem Verhalten Einzelner in der Gruppe vorgestellt, wobei sehr gut herausgearbeitet wird, wie unterschiedlich die Herangehensweise innerhalb der anarchistischen Szene diesbezüglich ist. Der dritte Teil des Buches schließt mit einem Plädoyer für das Philosophieren (in Gruppen) als eine Möglichkeit, eine positive Kommunikationskultur zu entwickeln, eigene Standpunkte zu erweitern bzw. zu hinterfragen und die Perspektive des Anderen einzunehmen. Wichtig sei dabei allerdings das Philosophieren „auf Augenhöhe“ ohne eine Klassifizierung der Standpunkte in „richtig“ oder „falsch“ (S. 413), also gewaltfrei und ohne Meinungsführung.

Im Ausblick genannten Schlussabschnitt wird zunächst das letzte Werk des 2020 verstorbenen Anarchisten David Graeber, Pirate Enlightment, in der Form eines Interviews mit dem bekannten Linguisten und Systemkritiker Noam Chomsky diskutiert. Dabei geht es um den wichtigen, wenig bekannten Einfluss nicht-westlicher Gesellschaften auf die aufklärerischen Ideen, um die Dekonstruktion des Mythos der positiv-treibenden Kräfte der Eliten und um alternative Interpretationen der aktuellen Weltpolitik, die dem gängigen Narrativ widersprechen. Im zweiten Beitrag präsentiert der weltbewanderte Schriftsteller Ilja Trojanow u. a. ein interessantes „Destillat“ der Gesellschafts-Utopien quer durch die verschiedenen Zeiten und Regionen und findet darin „ziemlich genau das, was das anarchistische Denken über die Jahrhunderte in verschiedenen Ausformungen vorzuschlagen hat“ (S. 437). Konstantin Wecker fordert abschließend nochmals den Anarchismus als ein Gegenstück zu Kapitalismus und Faschismus und bezeichnet ihn als typisch für „wahre Dichterinnen und Dichter“ (S. 443). Zwei Songtexte des Künstlers zum Thema schließen das Werk.

Summa summarum liegt hier eine hochinteressante Beitragssammlung vor, die die Problematik der modernen Krisen und die Unfähigkeit der Nationalstaaten sie zu lösen analysiert und aus verschiedenen Blickwinkeln Lösungsansätze in herrschaftsfreien Gesellschaftskonzepten sucht. Es ist aber durchaus ein differenziertes, vorsichtiges Abwägen, in dem unterschiedliche Sichtweisen dargeboten werden. Für mich war es eine sehr spannende Reise in die anarchistische Gedankenwelt. Es wurden mindestens so viele Fragen aufgeworfen wie beantwortet, was aber in diesem Kontext durchaus legitim erscheint. John Holloway schreibt in seinem Beitrag selbst, dass es keine fertigen Antworten auf die kritischen Fragen an Nationalstaat und Kapitalismus gäbe. Es existiere aber eine „Option, die Sachen selbst zu machen, kollektiv“ (S. 330). Der Weg dorthin führe über das Fragen. Inhaltlich fehlt (vielleicht auch deshalb) diesem Buch eine breitere Auseinandersetzung mit der Transformation, d. h. wie kann der Übergang von der (kritisierten) modernen Gesellschaft in eine anarchistische gelingen. Dies war aber offenbar aber auch nicht der Anspruch. Ilja Trojanow plädiert in seinem Beitrag dazu passend dafür, die Gegenentwürfe zum herrschenden System vorzuschlagen, „ohne die Frage der Machbarkeit zu stellen“ (S. 437). In diesem Sinne scheint der Weg das Ziel, nämlich der Weg, anarchistische Gedanken zu den Menschen zu tragen, damit die Welt eine bessere werde. Zahlreiche Artikel dieses Buches und insbesondere das Konzept der Partizipatorischen Ökonomie zeigen, dass es sehr konkrete Umsetzungsvorschläge gibt und die anarchistische Theorie somit durchaus in die Praxisstrebt. Sie hat den Mut dazu, entsprechenddem im Buch oft zitierten Satz von Adorno: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.“

Jan Pauls

Quelle: espero Nr. 9/10, Dezember 2024, S. 535-539.