Von Milo Probst. Berlin: Matthes & Seitz, 2025, ISBN 978-3-7518-2044-8, 296 Seiten, 32,00 €.
Von der Herrschaftskritik zur Beziehungsfülle
Eine widerständige Ökologie, die hieran anschließt, ist in ihren Praktiken ebenfalls auf Zwischenräume verwiesen: Auf Ritzen und Lücken der Herrschaftssysteme, die es mit dezentralen Experimentierfeldern zu füllen und zu weiten gilt. Dort können die instrumentellen Naturbezüge von Hierarchie, Staat und Kapital unterbrochen werden. Dort lassen sich speziesübergreifende Allianzen einüben, die von einer Ethik der Gegenseitigkeit, der Sensibilität und Aufmerksamkeit getragen sind. Dort sind Dynamiken des Beginnens und der Vorwegnahme möglich, die darauf lauern, in die Gesellschaft hineinzuwachsen.

Einem solchen Transformationsmodell steht Demut gut zu Gesicht. Die planetaren Herausforderungen sind zu gewaltig, als dass ein Voluntarismus des noch nie Dagewesenen sie allein meistern könnte. Ergänzend braucht es ein kritisches Anknüpfen an Traditionen des Vorgedachten. Es braucht eine Archäologie sozialökologischer Zukunftsentwürfe, die Untergründiges und Vergessenes wieder an die Oberfläche holt. Und das nicht, um sich in eigenen Ansichten bloß rückzuversichern, sondern um im Gegenteil die Gewissheiten der Gegenwart herauszufordern.
Dass sich im Anarchismus auch unter diesen Vorzeichen Bedeutendes zutage fördern lässt, zeigt uns jetzt Milo Probst (geb. 1991). Sein neues Buch ist bei Matthes & Seitz Berlin erschienen. Es trägt den Titel Anarchistische Ökologien. Eine Umweltgeschichte der Emanzipation.
Schon im klassischen Anarchismus wurde intensiv über Naturverhältnisse gestritten. Milo Probst spürt den Themenfeldern nach, den Kontroversen und den transnationalen Diskursräumen, die sich hierüber auftaten. Geographisch ist seine Untersuchung daher im französischen Sprachraum und in Argentinien verortet. Zeitlich umspannt sie die Jahre 1870 bis 1920, also jenes halbe Jahrhundert zwischen der Herausbildung des Anarchismus als eigenständiger Bewegung und seinem relativen Bedeutungsverlust nach Ende des Ersten Weltkrieges.
Mitnichten geht es Probst um die Kultivierung einer Ahnengalerie berühmter Personen und Werke. Er küsst in Archiven schlummernde Materialbestände wach und folgt Namen, die heute nur noch wenig bekannt sind. Dieses Weite und Ausgangsoffene bewahrt ihn vor den Fallstricken einer Historiographie, die systematische Zusammenhänge konstruiert, wo es sich in Wahrheit um Ort-, Zeit- und Kontext-Gebundenes handelte.
Das, was sich in der Tat finden lässt, beschreibt Probst als Anarchistische Ökologien. Nämlich als Momente, in denen auf je unterschiedliche Weise versucht wurde, Herrschaftskritik und Strukturkreativität im Gesellschaftlichen mit alternativen Beziehungen zum Nicht-Menschlichen zu verbinden. „In diesem Sinne darf diese Arbeit keineswegs als lineare Entwicklungsgeschichte des modernen Umweltdenkens gelesen werden. Anarchistische Ökologien sind nicht – und dies ist nicht genügend zu betonen – mit einem ökologischen Anarchismus gleichzusetzen. Die angestrebten Naturverhältnisse waren nicht zwingend ‚ökologisch‘ oder ‚nachhaltig‘ nach dem heutigen Verständnis“ (S. 192). Und doch öffnet ihre Befragung im Rückblick Denkräume und Lösungsansätze, deren kollektive Bearbeitung nach wie vor aussteht. Gewinnen lässt sich die Zukunft nur mit geschärften Sinnen für Experimente und Suchbewegungen der Vergangenheit.
1) Ressourcen.
Wie Eigentumskritik der Umwelt eine Stimme verleihen kann, bezeugt das argumentative Handgemenge in der Internationalen Arbeiterassoziation (Erste Internationale; gegr. 1864). Es waren antiautoritäre Fraktionen des Kollektivismus, die ihren Sturmlauf gegen das Zur-Ware-Machen der Erde mit deren Eigengesetzlichkeit begründeten. Im Grund und Boden, in der Luft, in Minen und Wäldern, in Steinbrüchen oder Fischereigründen wirken autonome Naturkräfte, die aus sich heraus einfordern, umsichtig und vorausschauend bewirtschaftet zu werden. Die Gaben der Natur zu erhalten, ihrem Eigenleben und ihren Reproduktionszyklen Rechnung zu tragen, sei nur über ihre Verwandlung in Gemeingüter möglich. In Gestalt der assoziierten Kommunen müssten alle Gesellschaftsglieder in die Lage versetzt werden, über den Gebrauch des Menschenungemachten mitzuentscheiden. Aber selbst die gegenwärtige Gesamtgesellschaft dürfe keine Willkür walten lassen. Denn in Bezug auf die Naturreichtümer stehe kommenden Generationen dasselbe Nießbrauchrecht zu. Zweifelsohne tat sich hier eine Gegentendenz zu Industrialismus und naturbeherrschender Technik kund. Anstatt für die Umsetzung auf ein Aushandeln gegenseitiger Beziehungen und Verpflichtungen zu setzen, verblieb jedoch auch der Kollektivismus in der Rationalität staatlicher Ressourcenverwaltung. Greifbar wurde dies in seinem Ruf nach wissenschaftsgesteuerten Großkulturen auf dem Lande. Was der Ökologie des Kollektivismus trotz ihrer genossenschaftlichen Ausrichtung somit eingeschrieben blieb, war eine Abwertung von kleinbäuerlichen Arbeitsformen und von konkreten Naturbeziehungen lokaler Bevölkerungsgruppen.
2) Techniken.
Das Credo des Anarchokommunismus seit den 1880er Jahren war Wiederanschluss durch aktive Gestaltung: „Um die Menschheit mit der Natur zu vereinen, musste der Planet mit Tunneln durchbohrt, Kanälen zerfurcht oder Stromleitungen und Eisenbahnlinien überzogen werden. Solche Infrastrukturen produzierten im anarchokommunistischen Verständnis keine soziale Zeit- und Räumlichkeit, die sich von den ökologischen Rhythmen und Netzwerken abhob […]“ (S. 81). Befreiende Technologien, Maschinen und Energieträger, von denen sich zumindest Keimformen bereits im Schoß des Kapitalismus entwickelten, könnten den Weg ebnen für dezentrale, in Naturräume eingepasste Siedlungsstrukturen. Sie seien Grundlage für eine Neuorganisation der Arbeitswelt hin zu experimentellen, ästhetisch ansprechenden und kooperativen Tätigkeiten. Und sie ermöglichten ein flexibles Ineinandergreifen von Landwirtschaft, Industrie und Handwerk. „Die anarchistische Gesellschaft entsprach einem sich beständig transformierenden, sich an seine Umwelten anpassenden Organismus“ (S. 91). Grundlage dieser Zukunftsvision allerdings war eine Entfesselung von Produktivitätsfortschritten, die schon bald zum Ende der Güterknappheit und zu materiellem Überfluss führen werde. Selbst wenn die Beseitigung ungerechter Verteilungsmechanismen und die Genügsamkeit neuer Bedürfnisstrukturen mitgedacht wurden: Die These des Anarchokommunismus von einem unbeschränkten Konsumtionsrecht passt kaum in das Spannungsfeld von Befreiung und Postwachstum, in dem das Emanzipationsprojekt angesichts planetarer Grenzen mittlerweile steht.
3) Körper.
Die Untrennbarkeit von Selbst- und Weltbeziehungen war Ausgangspunkt einer Pädagogik, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts in anarchistischen Bildungsprojekten zur Blüte kam. Zum Symbol ihres Vorgriffs auf die Zukunft wurde das Gärtnern. Und zwar das Gärtnern in Gleichberechtigung von Lernenden und Lehrenden, in Solidarität und selbstbestimmter Kooperation. Mittun bei gemeinschaftlicher Umwelt- und Milieupflege eröffne jedem Individuum die Möglichkeit, einen achtungsvollen Umgang auch mit sich selbst einzuüben und hierüber seine je einzigartigen Potentiale auszubilden. Dabei ging es nicht allein um geistige oder moralische Fähigkeiten. Das Ideal der Ganzheitlichkeit, dem dieses Erziehungskonzept folgte, ruhte auf einem physiologischen Fundament. Es verstand sich als Anwalt einer Naturhaftigkeit, die der menschliche Organismus mit allen Wesen auf diesem Planeten teile. „Die Anarchist:innen kämpften mit einer allumfassenden, lebendigen und sich selbst regulierenden Natur im Menschen und um ihn herum gegen deren herrschaftliche Zurichtung, weil diese Natur selbst nach Emanzipation zu trachten schien“ (S. 145). Ausgerichtet war die anarchistische Pädagogik damit auch auf die Leiblichkeit der ihr Anvertrauten. Vor dem Hintergrund damaliger Gesundheitsbilder war der Übergang zur Pathologisierung normabweichender Körper freilich fließend. „Für heutige Strategien würde das Folgendes bedeuten: Statt die Kategorie Natur endgültig zu entsorgen, müssten wir uns – neben der sehr berechtigten Suche nach anderen Wörtern – ebenfalls auf die beschwerliche Suche nach einem queeren, antirassistischen und antikolonialen Naturbegriff begeben“ (S. 146).
4) Territorien.
Neusetzungen, die sich nicht auf bestehende Beziehungsgeflechte einlassen, verraten die Emanzipation. Darauf verweist die Geschichte anarchistischer Siedlungskolonien in Argentinien. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren dessen Weite und Hinterland ein transnationaler Sehnsuchtsort, der wie geschaffen schien für den Aufbau freier Agrarkommunen. Der Utopie-Import aus Europa berief sich auf Traditionen des Kollektiveigentums, wie sie z. B. von Dorfgemeinschaften im zaristischen Russland gepflegt wurden. Gleichzeitig war es die Flagge ökologischer Sensibilität, unter der Einwandernde den Atlantik überquerten und ihren Anspruch auf Landnahme in der Pampa und in Patagonien geltend machten. Die Gegenwart, auf die sie dort stießen, war allerdings immer noch gezeichnet von der Enteignung und Vertreibung Indigener Bevölkerungen. Dieser Ambivalenz entledigte sich auch der Anarchismus durch eine Übernahme rassistischer Erzählungen vom vermeintlich Menschenleeren und Barbarischen der betreffenden Territorien. Der Entlastungsbedarf solcher Reden zeigt eine grundsätzliche Herausforderung an, die mit einer Ökologie von Gemeingütern bzw. Commons verbunden ist. Offensichtlich ist ein Teilen von Natur nur dann einfach, wenn sie unberührt ist. „Dort aber, wo sich unterschiedliche Geschichten, Eigentümerschaften, Praktiken und Beziehungen kreuzen, hat das Teilen ebenfalls einen Umgang mit dem Ungeteilten zu finden – dem ‚uncommon‘ […]. Voraussetzung dafür ist ein ernsthaftes Interesse an den verschiedenen Geschichten und Lebensweisen, die menschliche Kollektive an ein Territorium binden. Erst dann kann das ‚commoning‘ als das gedacht werden, was über das Teilen einer Ressource hinausgeht; nämlich als Versuch, unterschiedliche symbolische, affektive oder produktive Beziehungen zur Erde solidarisch aufeinander abzustimmen“ (S. 187 f.).
Mit seiner Umweltgeschichte der Emanzipation hat Milo Probst ein schönes Stück Anarchismus-Forschung vorgelegt. Seine Erträge ragen weit in unsere Gegenwart hinein. Sie führen uns vor Augen, dass an eine Verbesserung der Verhältnisse ohne Inspirationen aus der Vergangenheit nicht zu denken ist. Solche Weitungen des Gesichtsfeldes brauchen wir mehr denn je. Wir wünschen diesem Buch viel Erfolg und ein erkenntnisfreudiges Publikum.
Markus Henning
Quelle: espero Nr. 11, Juli 2025, S. 275-280.