Gelebte Revolution  – Anarchismus in der Kibbuzbewegung

Gelebte Revolution. Anarchismus in der Kibbuzbewegung. Von James Horrox, Nettersheim: Verlag Graswurzelrevolution, 2022, Kartoniert, 259 Seiten, 978-3939045465, 24,80€ [Direktkauf bei aLibro]

Die gelebte Anarchie der Kibbuzbewegung

Wenn man die Geschichte des organisierten Anarchismus betrachtet, dann hat es zwar seit dem Aufstand der Pariser Kommune von 1871 kaum eine sozialrevolutionäre Erhebung auf der Welt gegeben, für die sich nicht auch eine mehr oder weniger deutliche Präsenz von Anarchistinnen und Anarchisten nachweisen ließe. Aber in nur wenigen Fällen wie in der Russischen Revolution, speziell in der Ukraine in den Jahren 1917-1921, sowie in der Spanischen Revolution in den Jahren 1936-1939 war es den anarchistischen und verwandten libertären Bewegungen zumindest zeitweise möglich, ihre anarchistischen Theorien auf ihre praktische Machbarkeit hin zu überprüfen.

Diese auch in der Geschichtsschreibung des Anarchismus dominierende Fokussierung auf jene wenigen historischen Momente, in denen die organisierte anarchistische Bewegung im Gefolge einer Revolution die Machbarkeit ihrer anarchistischen Theorien einem Realitäts-Check unterziehen konnte, klammert allerdings ein reiches Reservoir an praktischen Erfahrungen aus, die von libertären Projekten und Bewegungen in zahlreichen Versuchen zur Realisierung einer gelebten Anarchie im Hier und Jetzt der bestehenden Gesellschaft gewonnen wurden. Hierzu gehören insbesondere die zahlreichen Siedlungs- und Kommune-Projekte, die von den Anarchisten und Anarchistinnen überall auf der Welt immer wieder unternommen wurden.

Von allen libertären „Sozialexperimenten“ der jüngeren Geschichte, in denen sich am deutlichsten der Einfluss anarchistischer Ideen und Theorien zeigt, gehört zweifelsohne die Kibbuzbewegung in Palästina und Israel zu den bekanntesten, und es ist auch dasjenige, das die längste Überlebensdauer bewiesen hat. Mit dem Einfluss des Anarchismus auf die Kibbuzbewegung beschäftigt sich das nun in deutscher Übersetzung vorliegende Buch Gelebte Revolution. Anarchismus in der Kibbuzbewegung des libertären englischen Politologen James Horrox. Auf der Grundlage von Archivrecherchen, Interviews und politischen Analysen dokumentiert Horrox in seiner Studie die über hundertjährige Geschichte der Kibbuzbewegung unter besonderer Berücksichtigung ihrer ideologischen Wurzeln.

Horrox beschreibt den Kibbuz als „eine auf Freiwilligkeit basierende, sich selbst regierende Gemeinschaft, die durch ihre Mitglieder demokratisch verwaltet wird, wobei sie weder über juristische Sanktionsmöglichkeiten noch irgendeinen anderen Rahmen von Zwangsautorität verfügt, um eine Anpassung an ihre kollektiv gefällten Verhaltensnormen zu erreichen“ (S.20). Damit entsprach der Kibbuz den Ideen, wie sie von den Klassikern des Anarchismus für eine anarchistische Um- und Neugestaltung der Gesellschaft entwickelt worden waren. Horrrox arbeitet in seiner überwiegend ideengeschichtlich angelegten Studie die anarchistischen Wurzeln der Kibbuzbewegung heraus, und es zeigt sich ein dichtes Geflecht von anarchistischen Ideen, Theorien und Methoden, die vielen Quellen entspringen und zahlreiche Interpreten und Propagandisten in der Kibbuzbewegung gefunden haben.

Es ist das große Verdienst von James Horrox, dass er in seiner Studie nicht nur den Einfluss der bekannten anarchistischen Klassiker wie Kropotkin oder Landauer auf die Kibbuzbewegung aufzeigt, sondern dass er – neben Martin Buber und Franz Oppenheimer – auch jene anderen, international weit weniger bekannten, libertären jüdischen Denker und Aktivisten – wie z. B. Aaron David Gordon (1856-1922) und David Trumpeldor (1880-1920) – berücksichtigt, die die Geschichte der Kibbuzbewegung ideologisch stark anarchistisch geprägt haben.

Bis zur Gründung des israelischen Staates im Jahr 1948 entwickelte sich die Kibbuzbewegung in Palästina als ein föderales Netzwerk von autonomen Siedlungs- und Produktionsgemeinschaften, das weitgehend auf den anarchistischen Prinzipien der gegenseitigen Hilfe, der direkten Demokratie, des Gemeineigentums, der horizontalen Macht und eines radikalen Egalitarismus basierte und damit alle Aspekte des kommunalen Zusammenlebens von den zwischenmenschlichen Beziehungen bis zur politischen Ökonomie durchdrang.

Bis 1980 gelang es der Kibbuzbewegung in Palästina, und ab 1948 in Israel, die Anzahl ihrer Siedlungen landesweit auf 255 auszuweiten, die über 111.200 Mitglieder verfügten. Jedoch brachte die Wirtschaftskrise und Inflation in den 1980er Jahren viele der Kibbuzim in Israel in finanzielle Schwierigkeiten und nicht wenige wurden in den Ruin getrieben. Unter dem Druck der Wirtschaftskrise spaltete sich die Kibbuzbewegung in zwei verschiedene Arten von Kibbuzim: in die kommunalen Kibbuzim, in denen nur geringfügige Änderungen an der traditionellen, auf anarchistischen Prinzipien basierenden Kibbuz-Lebensweise vorgenommen wurden, und in die Kibbuzim neuen Stils – quasi im Sinne eines Kibbuz 2.0 –, die sich kapitalistischen Wirtschaftsmethoden zuwendeten und den Kibbuz als profitorientiertes Unternehmen betrieben. Diese neuen Kibbuzime verzichten zunehmend auf ihr egalitäres Produktions- und Konsumtionsprinzip. Zwar sollten die erwirtschafteten Gewinne weiterhin nach Kibbuz-Prinzipien unter den Mitgliedern verteilt werden, aber die Verantwortung für die Arbeit wurde zunehmend von der Gemeinschaft auf das Individuum übertragen, wodurch der bisherige egalitäre Charakter des Kibbuz verlorenging. Manager ersetzten Ämterrotation und Mehrheitsentscheidungen. Wirtschaft und Gesellschaft gingen im Kibbuz neuen Stils fortan getrennte Wege.

Das wohl gravierendste Problem für die Kibbuzbewegung war allerdings die demografische Entwicklung ihrer Mitglieder. So verschob sich ab den 1980er Jahren der Altersdurchschnitt der Kibbuzniks immer weiter nach oben, so dass immer mehr ältere und weniger junge Mitglieder die Einwohnerschaft des Kibbuzes bildeten. In der Kibbuzbewegung machte sich dieses Problem dadurch bemerkbar, dass die Mitglieder der zweiten und dritten Generation zunehmend seltener die anarchistischen Kibbuz-Ideale ihrer Eltern teilten und den als einengend empfundenen Konformismus und Kollektivismus des Kibbuz-Lebens ablehnten und stattdessen für sich mehr Privatsphäre und auch bessere persönliche Entwicklungsmöglichkeiten bean-spruchten, als ihnen der Kibbuz bieten konnte.

Was dieses Problem betrifft, hätte man sich gewünscht, dass Horrox, auch wenn der Schwerpunkt seiner Arbeit zweifellos auf der ideengeschichtlichen Darstellung der Kibbuzbewegung liegt, hier vielleicht etwas mehr Ursachenforschung betrieben hätte. Denn dieses Phänomen war ja durchaus keine Spezialität der Kibbuzbewegung, sondern man kennt es aus der Geschichte vieler egalitärer Siedlungsgemeinschaften, die auf einer allen Mitgliedern gemeinsamen ideologischen oder religiösen Grundlage gegründet wurden, und deren kommunale Lebensweise in Kontrast und in Konkurrenz zu ihrer Umwelt stand. Ab der zweiten und dritten Generation lässt in solchen Projekten gewöhnlich die Begeisterung für die alten Ideale der ersten Pioniergeneration nach.

Aber das Streben nach der Anarchie, also nach dem Leben in einer freien und solidarischen Gesellschaft, ist zu tief in der menschlichen Kultur verwurzelt, als dass die seit Mitte der 1980er Jahre sich auch ideologisch abzeichnende Krise der Kibbuzbewegung ihr Ende eingeläutet hätte. Denn parallel dazu entstand bereits in den 1970er und 1980er Jahren in Israel auch eine Bewegung, die unter Rückbesinnung auf die anarchistischen Wurzeln der Kibbuzbewegung sich um eine Neubelebung des Kibbuzkonzeptes, quasi um ein libertäres Kibbuz 3.0 bemühte. Diese neue Generation von Kibbuzniks wollte weg von dem jegliche Spontaneität lähmenden Regelwerk der Kibbuz-Bürokratie und weg von dem Konformismus, der sich im traditionellen Kibbuzleben eingebürgert hatte, wollte neue Freiheiten und neue Herausforderungen. Ein gutes Beispiel für diese Renaissance der Kibbuz-Idee sind die in Israel ab den 1990er Jahren gegründeten Urbanen Kibbuzim, mit denen versucht wurde, die libertär-egalitären Prinzipien, die sich in den traditionell agrarischen Kibbuzim entwickelt und bewährt hatten, in ein modernes städtisches Ambiente zu übertragen. Diese neu entstandene libertäre Kibbuzbewegung unterhält Verbindungen zur jüngeren anarchistischen Bewegung in Israel, zu den Kriegsdienstverweiger:innen, zu äthiopisch-jüdischen Nachbarschaftsprojekten, und es wurden sogar gemeinsame arabisch-jüdische Kibbuzim gegründet.

Über lange Zeit wurde die Kibbuzbewegung Israels – insbesondere in der internationalen, aber auch in der israelischen Linken – nur aus dem Blickwinkel ihrer engen Verflechtung mit dem israelischen Staat und seiner militaristischen Politik gegenüber den Palästinensern betrachtet. Dass man damit gleichzeitig den reichen Fundus an Erfahrungen und Erkenntnissen dieser ältesten noch bestehenden libertären Bewegung ignorierte, war nicht wirklich smart. Deshalb fragt der israelische Anarchist Uri Gordon im Vorwort zur US-amerikanischen Ausgabe des Buches sicher nicht zu Unrecht: „Warum soll denn die versuchte Umsetzung des Anarchismus in der frühen Kibbuzbewegung auch nur in irgendeinem Sinne verwerflicher sein als beispielsweise der Hinweis auf die Town-Meetings im Sinne einer Quelle anarchistischer Inspiration in Neu-England, wo doch alle wissen, dass diese Versammlungen auf dem kolonisierten Land indigener Bevölkerungsgruppen stattfanden?“ (S. 211).

Die von Horrox in seiner Studie beschriebene Geschichte der Kibbuzbewegung bietet einen reichen Fundus an Erkenntnissen und Lehren, die die Kibbuzniks bei der Realisierung ihres egalitär-libertären Gesellschaftsmodells in einer inzwischen über hundert Jahre andauernden Praxis erlangen konnten, ein Wissen, das uns heutige Libertäre in anderen sozialen und politischen Zusammenhängen von Nutzen und Wert sein kann. Dies sah auch der libertäre US-amerikanische Sprach- und Sozialwissenschaftler Noam Chomsky so, der 1999 in einem Interview darauf hinwies, dass die Kibbuz-Gemeinschaften „dem anarchistischen Ideal nähergekommen sind als andere kurzlebige Versuche, bevor diese wieder zerstört wurden“ (S. 126).

Jochen Schmück

Quelle: espero Nr. 5, Juli 2022, S. 326-333.

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