Warum haben wir eigentlich immer noch Kapitalismus?

Warum haben wir eigentlich immer noch Kapitalismus? Von P.M, Berlin: Hirnkost Verlag, 2020, Paperback, 100 Seiten, ISBN: 978-3-948675-12-7, 14,00€

Wir könnten es schaffen – die Abschaffung des Kapitalismus

Der Schweizer Autor P.M. – inzwischen offenes Pseudonym für Hans Widmer – legt mit seinem neuen Buch Warum haben wir eigentlich immer noch Kapitalismus? seine 20. Publikation in vierzig Jahren vor. Und wieder geht es um existentielle Fragen.

Die Polit-Rockgruppe Ton Steine Scherben sang bereits 1972 in ihrem Lied „Der Traum ist aus“: „Wir haben nichts zu verlieren, außer uns’rer Angst“. Dies scheint eines der Hindernisse zu sein, weshalb seit über 150 Jahren organisierter Arbeiterbewegung der Kapitalismus nicht abgeschafft werden konnte. Ein permanentes Krisenmanagement, das einfach nicht kaputtgehen will. Im Gegenteil, aus jeder Krise geht der Kapitalismus gestärkt hervor und die Freiräume seiner Gegner*innen werden immer weniger.

P.M. war bereits in den frühen 1980er Jahren Aktivist der Zürcher Hausbesetzerbewegung. Daher stammt sein Pseudonym, weil er kein Anführer sein wollte und will. Seine Intention liegt im Unterbreiten von Vorschlägen, in der Kritik des Bestehenden und einem aufklärerischen Humor. Als Autor wechselt er zwischen Sachbüchern und Romanen, in denen teilweise seine Ideen umgesetzt werden, eine grundsätzliche Kapitalismuskritik und -analyse, gewandet in Sci-Fi- und Fantasyromanen. Wir brauchen mehr Fantasie und weniger Angst!

Das neue P.M.-Buch beginnt mit einer Bestandsaufnahme der herrschenden Zustände, in der es natürlich auch Kritik an der Linken gibt, die seit 150 Jahren für sich in Anspruch nimmt, gegen den Kapitalismus zu kämpfen, aber warum gab es z.B. so wenig Widerstand gegen die damalige Annexion der DDR? Weil es nichts gab, was sich zu verteidigen lohnte? Und wir wissen nicht erst seit den Wallstreet-Protesten, dass wir eine gesellschaftliche Mehrheit von 99% sind gegenüber dem einen Prozent von Kapital und politischem Einfluss. Ein Punkt ist sicherlich die Zaghaftigkeit der Linken insgesamt, wenn z.B. eine „Reichensteuer“ gefordert wird, die natürlich nur funktionieren könnte, wenn das System gestützt wird und die Reichen auch weiterhin reich bleiben dürften.

Es sind bei P.M. auch immer wieder die überraschenden Erkenntnisse, die wie in Stein gemeißelten Sätze, die alte Denkmuster ins Wanken bringen, wenn es z.B. um Feminismus geht, bzw. um einen Sturz des Patriarchats, denn Frauen per se sind im Kapitalismus nicht die „besseren“ Präsidentinnen, die besseren Chefs: „Erst wenn wir die Essenz des Patriarchats angreifen, also den Arbeitsbegriff, dann läutet seine Totenglocke.“ …und eben auch die des Kapitalismus.
P.M., der aktiv in der Genossenschaftsbewegung ist, muss nicht nur gegen verkrustete Strukturen etwa in den Schweizer Genossenschaften ankämpfen, sondern bemängelt auch, dass die Linke nicht mehr auf Gemeineigentum setzt: „Das Fehlen der Linken bei der Commonsdiskussion ist ominös: einige fürchten den Begriff wie der Teufel das Weihwasser.“ Oder, warum die Linke immer noch auf einen Arbeitsethos des letzten Jahrhunderts setzt, wenngleich doch schon Marx geschrieben hat: „Ich sage, dass die Arbeit selbst schädlich, unheilvoll ist.“ (Dieses Zitat leitet übrigens das Buch auch ein.)
Neben der Analyse des Bestehenden gibt es dann natürlich die Vorschläge zur Überwindung des Kapitalismus. Aus den Überlegungen der Initiative „Neustart Schweiz“, basierend auf den Nachbarschaften, überträgt P.M. das Konzept auf die ganze Welt. Wobei er – als Querdenker – etwa eine Neuaufteilung in Regionen oder auch nur die Anerkennung geographischer Grenzen ablehnt. Er hält etwa die Einteilung in Regionen – wie mitunter gefordert – für fatal, da hier der Keim von Nationalismus und Rassismus liegt, bzw. liegen könnte. Grenzen sollten willkürlich sein: Ein Gitter von 280 Km im Quadrat mischt die Karten neu und „zwingt“ die Menschen zur Zusammenarbeit. Es mag auch befremdlich sein, dass hier überhaupt über Grenzen geredet wird. Grenzen sind auch P.M. wichtig, weil sie etwa bei der Planung von landwirtschaftlichen Bedürfnissen helfen. Die Frage bleibt, wie Grenzen definiert werden, und welcher Umgang mit ihnen gepflegt wird. Sie müssen im höchsten Maße durchlässig sein. Was wir brauchen, ist eine antikapitalistische Globalisierung.
Anstelle der alten bolo’bolo-Version aus den 1980er Jahren tritt jetzt der Vorschlag zu einer neuen globalen Aufteilung in „Globale Module“ (= Glomo) wie folgt:

16 Millionen Nachbarschaften (= Glomo 1)
400.000 Quartiere / kleine Städte (Glomo 2)
4.000 große Städte / Regionen (Glomo 3)
800 Territorien (Glomo 4)
1 Welt (Glomo 5)

Alles wird durchgerechnet, durchgedacht… versehen mit Argumenten und Vorschlägen. In wie weit alles praktikabel ist, müsste natürlich die Praxis zeigen, und dazu gehört natürlich auch eine globale Solidarität und der Wille, alte Strukturen zu überwinden, schlichtweg die gesamte Vorstellung von einem „guten Leben“ neu zu denken, neu zu bereden, neu zu diskutieren.
Es geht also um eine gerechte Verteilung der Ressourcen, um ein gutes Leben für alle, um eine Ökobilanz, die sich wirklich sehen lassen kann, und um ein Weniger, welches letztlich ein Mehr für alle sein soll, das nicht nur auf Verzicht diverser Annehmlichkeiten beruhen soll: Ein Vier-Sterne-Hotel für alle. Zugegeben: Seine Vorschläge klingen utopisch und radikal und neben der Angst der einzelnen Menschen (und ihrer Bequemlichkeit) mag einiges auch kritikwürdig sein, aber P.M. stellt keine Doktrin auf. Die Menschen sollen sich zusammensetzen und ihre Bedürfnisse ausloten. Was wollen wir? Wie wollen wir leben? Wie sollen unsere Lebensmittel hergestellt werden? Was nutzt ein Feminismus, der patriarchale Tugenden predigt? Und wie wollen wir den Begriff Arbeit definieren? Usw. usf.
Im Prinzip müsste das Buch Schullektüre werden! Und wenn wir wissen, was wir wollen, finden wir auch einen Weg, wie wir es bekommen. Und wir brauchen zwingend neue Ideen, neue Konzepte. P.M. hat vielleicht ein paar Vorschläge, die wir ernstlich diskutieren sollten. Denn: „Wir haben nichts zu verlieren, außer uns’rer Angst“.

Jochen Knoblauch

Quelle: espero, Nr.1, Juni 2020, S. 160ff.