Von Michael Lausberg, Münster: Unrast, 2024, ISBN 978-3-89771-598-1, 143 Seiten, 12,80 €.
Ich gestehe, dass mir das Buch von Michael Lausberg über Kropotkins Philosophie des kommunistischen Anarchismus, das erstmals 2016 erschien, seinerzeit „durchgerutscht“ ist. Jetzt, bei der Neuauflage vom Juni 2024, ist es mir aufgefallen und ich habe es gelesen. Im Vorwort von 2016 schreibt Lausberg, und damit hat er leider immer noch recht:
„Vor allem im deutschsprachigen Raum gibt es erschreckend wenig wissenschaftliche Sekundärliteratur über Kropotkin, für einen Mann seiner theoretischen Begabung ist das beschämend und wirft kein gutes Licht auf die akademische Zunft.“ (S. 9)
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Umso besser, dass dieses Buch in einer neuen Ausgabe erschienen ist und somit meines Wissens das derzeit einzige über Kropotkin ist, das man in einer Buchhandlung bestellen kann. Allerdings ist es lediglich die zweite Auflage ohne eine Überarbeitung und Aktualisierung. So endet die erfasste Literatur immer noch vor 2016 und neuere Bücher oder Artikel wurden nicht berücksichtigt. Auch offensichtliche Fehler wurden nicht berichtigt.
Das Buch ist keine Biografie Kropotkins1, sondern eine Einführung in sein Denken, allerdings nicht nur, wie der Titel suggeriert, in die Philosophie des kommunistischen Anarchismus. Auch das 1989 erschienene Buch von Heinz Hug, Kropotkin zur Einführung2 ist keine Biografie, sondern ganz ähnlich aufgebaut wie das Buch von Lausberg, der daraus immer wieder zitiert.
Lausbergs Buch ist gut strukturiert, indem erst die gesellschaftspolitischen Entwicklungen und Rahmenbedingungen im zaristischen Russland detailliert geschildert werden. Danach gibt es drei knappe Seiten, was Anarchismus eigentlich ist, gefolgt von einem elfseitigen biografischen Teil. Dieser ist im Prinzip gut, enthält aber einige Fehler, die hätten korrigiert werden sollen und können. Auf Seite 31 steht, Kropotkin hätte in Moskau begonnen, Mathematik und Geografie zu studieren. Das stimmt beides nicht. Er hat ein Studium in St. Petersburg (Kropotkin spricht in den Memoiren nur von Petersburg) aufgenommen und auch nur in der mathematischen Abteilung der physikalisch-mathematischen Fakultät. Er widmete seine Zeit zum Teil aber noch der Geografie, wie er in den Memoiren eines Revolutionärs3 schreibt. Auch die Angabe, dass er sich seinen Unterhalt mit der Übersetzung der Werke Herbert Spencers (ins Russische) verdient hat (S. 31), ziehe ich in Zweifel. Kropotkin schreibt zwar in seinen Memoiren, dass er, um sein Englisch zu verbessern, Principles of Biology von Spencer übersetzte, aber nicht das gesamte Werk.4 Und dass er damit Geld verdient hat, erwähnt er meines Wissens nicht. Auch stellte er den ersten Band seiner Ethik nicht (ganz) fertig (S. 38). Diese wurde erst nach seinem Tod auf seinen Wunsch von N. Lebedeff bearbeitet und unfertig veröffentlicht. Und nicht die UdSSR ehrte Kropotkin mit einem Museum in Moskau (S. 39), sondern Kropotkins Frau Sofia musste hart kämpfen, um überhaupt Räume dafür zu bekommen. Das Museum wurde dann schon vor ihrem Tod von den Autoritäten wieder geschlossen.
Es schließen sich Kapitel über anarchistischen Kommunismus vs. Marxismus und wissenschaftlichen Anarchismus an. Ausführlich wird auf Kropotkins Auseinandersetzung mit dem Darwinismus, vor allem dem Sozialdarwinismus, eingegangen und seine Theorie der Gegenseitigen Hilfe. Kropotkins historische Analyse und seine anthropologische Ethik werden behandelt, wie auch Kapitalismus, Staat, Bildung und sein Revolutionsverständnis. Ausführlich wird auf Kropotkins Konzept des kommunistischen Anarchismus eingegangen und die kritische Rezeption bereits zu seiner Zeit durch z. B. Errico Malatesta (1853-1932) und Max Nettlau (1865-1944), aber auch auf Kritik aus heutiger Sicht, die teils scharf ausfällt. Lausberg versucht das dann aber gut, in einer kritischen Würdigung einzuordnen.
Alle Kapitel sind relativ schmal, man darf also keine umfassende Darstellung oder Analyse erwarten. Das ganz Buch hat nur 143 Seiten, ohne Literatur und Anmerkungen sogar nur 120. Mir hat das Buch gefallen und ich kann es zur Einführung in Kropotkins Denken sehr empfehlen. Dennoch ein paar weitere Bemerkungen.
Ich finde es richtig, eine gendergerechte Sprache zu verwenden, meine aber, dass Lausberg die von der Lesbarkeit ungünstigste Form angewandt hat. Hier ein Beispiel:
„Städtische Arbeiter_innen waren mehr und mehr bereit, politische Aktivitäten zu entwickeln. Die Kunde von der europäischen Arbeiter_innenbewegung verbreitete sich bald nicht zuletzt durch Handwerker_innen, die in Europa gearbeitet hatten. Anscheinend fanden sich in den illegalen Arbeiter_innenverbindungen, vor allem in Petersburg und Odessa, Facharbeiter_innen zusammen.“ (S. 18)
Es geht mir hier nur um die Lesbarkeit, die mir manche Seiten schwer gemacht hat. „Arbeiter/innen würde in meinen Augen weit weniger den Lesefluss stören als ein Unterstrich, alternativ auch „ArbeiterInnen“. Allerdings würde es ein Doppelpunkt oder das Gendersternchen nicht besser machen. Aber das ist sicherlich Geschmackssache.
Was mich wirklich gestört hat, ist die sehr häufige Verwendung der Webseite www.kropotkin.de. Ich unterstelle dieser Webseite nicht, dass auf ihr etwas Falsches steht, aber sie verfügt über keinerlei Impressum und die Autorenschaft der allgemeinen Texte über Kropotkin bleibt völlig im Dunkeln. Ich halte es, gerade angesichts des Anspruchs von Lausberg an die „akademische Zunft“ (S. 9), für nicht angebracht, seine Fakten und Zitate von einer solchen Seite zu holen, zumal sie auch anders zugänglich wären.
Ich finde es darüber hinaus auch ungünstig, aus Büchern zu zitieren, in denen Zitate aus Originalquellen stehen, wenn die Originalquellen ebenso einfach zugänglich wären.
Dann ist es mir mehrfach so gegangen, dass ich an den angegebenen Stellen die Zitate nicht finden konnte, stattdessen auf anderen Seiten des angegebenen Buches. Ich habe irgendwann aufgehört, es jedes Mal zu prüfen. Wenn aus den Memoiren eines Revolutionärs von 1973 (Frankfurt a. M.) zitiert wird, kann es eigentlich nur die Taschenbuchausgabe vom Insel-Verlag sein. Bei Lausbergs Anmerkungen 114 und 116 habe ich die angegebenen Zitate an den genannten Stellen nicht gefunden, aber an anderen Stellen. Ein weiteres Beispiel ist ein Zitat aus der Gegenseitigen Hilfe, das auf S. 16 des Vorwortes stehen soll. In den mir vorliegenden Ausgaben hat das Vorwort, das im Übrigen römisch nummeriert ist, nur 13 Seiten und das Zitat steht auf Seite X. Mag sein, dass die angegebene Ausgabe von 1993 anders nummeriert ist, mich würde das aber wundern.
Aber, um es noch einmal zu sagen, diese Kritik mindert nicht den Wert des Buches, das mit 12,80 Euro darüber hinaus für die heutige Zeit sehr preiswert ist.
Stephan Krall
Anmerkungen
1 Meines Wissens gibt es bis heute keine deutschsprachige Biografie Kropotkins.
2 Heinz Hug: Kropotkin zur Einführung, Hamburg: Junius, 1989. Dieses Buch wurde meines Wissens nicht noch einmal aufgelegt.
3 Peter Kropotkin: Memoiren eines Revolutionärs, Frankfurt a. M.: Insel, 1973.
4 Ebd. S. 449 f.
Quelle: espero Nr. 9/10, Dezember 2024, S. 531-534.