Herausgegeben von Frederik Fuß, Moers: Syndikat-A, 2025, 196 Seiten, 12,90 €, ISBN 978-3-949036-16-3.
Anarchismus und Antisemitismus
Eine der bedrückenden ‚offenen Flanken‘ innerhalb der anarchistischen Szene ist die – auch nach der Shoah – unzureichende Reflexion über den Antisemitismus, der fälschlicherweise unter dem Begriff ‚Rassismus‘ subsumiert wird. Hierbei wird übersehen, dass sich Judeophobie bis heute – besonders im deutschsprachigen Raum – als eine eigenständige Diskriminierungs- und Unterdrückungsform erweist.
Dass auch unter – vor allem nichtjüdischen – AnarchistInnen trotz des Anspruchs einer radikalen Herrschaftskritik und dem Wunsch nach freiheitlichen und gerechten Lebensformen keine grundsätzliche lebenspraktische Einigkeit darin besteht, was unter Antisemitismus eigentlich zu verstehen ist, hängt nicht zuletzt auch mit mangelhaften Geschichtskenntnissen, einer unzureichenden Gesellschafts-, Herrschafts- und Staatskritik, nicht zuletzt mit einer verkürzten Kapitalismuskritik zusammen, wonach Juden und Jüdinnen einseitig mit der Zirkulationssphäre identifiziert werden. Auch gilt es, den Irrglauben zu hinterfragen, wonach AnarchistInnen qua eines vorgeblich ‚richtigen‘ Bewusstseins von den Folgen der Geschichte vor allem im 20. Jahrhundert befreit sind.

Von den als Klassikern des Anarchismus apostrophierten Protagonisten, Proudhon, Bakunin und Kropotkin, waren die beiden Erstgenannten mit tiefsitzenden antisemitischen Vorurteilen behaftet und weigerten sich, ihre menschenfeindlichen Ressentiments aufzuarbeiten. Im Gegensatz dazu zählt Kropotkin zu den Vorkämpfern gegen Judenhass. Sowohl bei Proudhon als auch bei Bakunin, wie die Anarchistin und Historikerin Zoe Baker jüngst detailliert und überzeugend nachgewiesen hat1, herrschte ein judenfeindliches Weltbild vor, das von jenen Strukturelementen bestimmt wurde, die den modernen Antisemitismus bis heute ausmachen: Personifizierung, Manichäismus und Konstruktion identitärer Kollektive.
Da ist es zu begrüßen, dass nach der von Jürgen Mümken und dem Verfasser vorliegender Zeilen 2013 und 2014 herausgegebenen und mit Interesse aufgenommenen zweibändigen Publikation zum Thema Anarchismus und Antisemitismus2 aus libertärer Perspektive, die bedauerlicherweise zu keiner nachhaltigen und ernsthaften Auseinandersetzung in der anarchistischen Bewegung zum Antisemitismus und zum Nahostkonflikt geführt hat, nun endlich – anlässlich des Genozids am 7. Oktober 2023 in Israel durch antisemitische Rackets mit annähernd 1.200 Todesopfern – sich erneut dieses Themas mittels eines Sammelbandes angenommen wurde, um die durchaus unterschiedlichen Standpunkte aus anarchistischer Perspektive zu beleuchten.
Der Herausgeber Frederik Fuß benennt denn auch den 7. Oktober 2023 unmissverständlich als „Zäsur“ und „größten Massenmord an Jüdinnen und Juden seit der Shoah“ (S. 5). Als Zäsur betreffe er nicht nur jüdische Menschen, „gleichwohl diese vorrangig unter dem weltweit grassierenden Antisemitismus leiden, er zwingt auch alle anderen, sich in der Debatte zu verhalten, wenn nicht zu positionieren“ (ebd.).
Der Sammelband bietet einen thematischen Überblick vom historischen Anarchismus im 19. Jahrhundert bis hin zu aktuellen Debatten. Konzentrieren wir uns schwerpunktmäßig auf diejenigen Beiträge, die tatsächlich einen konstruktiven Beitrag zur Bekämpfung des Antisemitismus zu leisten vermögen.
Olaf Briese, ausgewiesener Experte des Frühanarchismus, trägt am Beispiel von Karl Grün, Richard Wagner und Wilhelm Marr viel Wissenswertes zusammen. So weist er etwa überzeugend nach, dass deren reduzierte Wahrnehmung des Kapitalismus aus einer verfehlten „Art von Kritik an Kapitalherrschaft und am Kapitalismus grundsätzlich“ (S. 19) herrührte. Zur Folge hatte dies eine Komplexitätsreduzierung auf zweifache Weise: „Erstens wurden krisenhafte Erscheinungen auf genau einen ursächlichen Aspekt reduziert. Zweitens war das der Aspekt explizit menschlicher – eben jüdischer – Akteure“ (ebd.). Anstatt die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer Komplexität in den Blick zu nehmen, wurde (und wird) Kapitalismus vielfach nach wie vor auf das Finanz- und Börsenkapital verkürzt. Obendrein tritt der Antisemitismus auf als Welterklärungsmodell, das persönlich Schuldige, nämlich Juden, verantwortlich macht für gesellschaftliche Probleme und politische und ökonomische Konfliktlagen.
Zwei weitere Beiträge (Maurice Schuhmann, Jürgen Mümken) beschäftigen sich mit den anarchistischen Wurzeln der Kibbuzim-Bewegung und werfen einen Blick auf Zionismus/Antizionismus und Staat Israel bis heute.
Als eine beispielhafte Grundlage zu weiteren Diskussionen können die gehaltvollen 12 Thesen zu Antizionismus und Anarchismus von Frederik Fuß herangezogen werden, wonach der Antizionismus „an sich unanarchistisch“ ist, „da er sich gegen einen bestimmten, den jüdischen Staat richtet und in der Umkehr andere Staaten legitimiert. Der Anarchismus stellt sich in eine universelle Gegnerschaft zu allen Staaten“ (S. 50).
Dem Verhältnis von Judeophobie und zeitgenössischem Anarchismus widmen sich gleich mehrere Beiträge.
Auch im Anarchismus, so Andreas Fischer, seien antisemitische Ressentiments auf mangelnde Reflexion kapitalistischer Modernität zurückzuführen.
Timo Gambke stellt sich dem Problem unzureichender Kritik des Antisemitismus in der anarchistischen Bewegung, in der kolportiert wird, dass Israel angeblich ein Apartheidstaat wie einst Südafrika sei, der Genozide ausführe, und in der Massaker an Juden und Jüdinnen als gerechtfertigter, nicht-antisemitischer Widerstand proklamiert werden. Nicht verschwiegen werden darf zugleich die tief empfundene Sympathie namhafter deutschsprachiger AnarchistInnen (etwa der Kreis um Rudolf Rocker und Milly Witkop) mit der Gründung des Staates Israel 1948, den sie nach der Shoah als Schutzraum der jüdischen Community anerkannten, auch wenn sie zugleich auf die strukturellen Malaisen jedes Nationalstaates hinwiesen. Um zu einer angemessenen Betrachtung und einer emanzipatorischen, libertären Perspektive auf den Nahostkonflikt zu gelangen, sei, so Gambke, „eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Antisemitismus im Allgemeinen und in der anarchistischen Bewegung im Speziellen, als auch eine Reflexion auf die Shoah (sowie die antijüdischen Pogrome im arabischen Raum)“ (S. 94) erforderlich. Dies schließe grundsätzlich die Anerkennung des Existenzrechtes Israels und eine konsequente Bekämpfung des Antisemitismus auch in der anarchistischen Bewegung mit ein.
Thorsten Bewernitz reflektiert das Thema aus syndikalistischer Perspektive und der dort entwickelten Theorie der Direkten Aktion. Diese stellt er dem Ansatz einer ‚nationalen Befreiungsbewegung‘, die seitens der PalästinenserInnen postuliert wird, diametral entgegen: „Der Anarchismus ganz im Allgemeinen und der Syndikalismus im Besonderen gelten aufgrund ihrer prinzipiellen Antistaatlichkeit und auch aufgrund seiner [sic!] damit einhergehenden Ablehnung des Nationenprinzips als vergleichsweise immun gegen solche Einhegungen durch eine ‚nationale Befreiung‘“ (S. 105). Sein Fazit lautet, dass der 7. Oktober 2023 aus syndikalistischer Perspektive selbstverständlich „nicht als Widerstand bezeichnet werden kann“ (S. 122), da „jeder Boykott, jede Sabotage und jeder Streik“ stets „auch auf ihre Inhalte und Ziele zu prüfen“ sind, „bevor man seine voreilige Solidarität erklärt. Die Alternative könnte mörderisch sein“ (ebd.).
Rudolf Mühland stellt in seinem auf persönlichen Erfahrungen gründenden Beitrag die Frage, warum AnarchistInnen antisemitische Ressentiments unreflektiert übernehmen und zugleich vielfach nicht bereit sind, „Kritik anzunehmen?“ (S. 129). Eine Erklärung könnte sein, dass sich AnarchistInnen „grundsätzlich auf der ‚richtigen Seite‘“ (ebd.) wähnen, nicht selten ein „sehr einfaches Konzept von Unterdrückern auf der einen Seite und Unterdrückten auf der anderen Seite“ (ebd.) vertreten. Im jüdisch-arabischen Konflikt sind folglich die Juden und Jüdinnen die Unterdrücker und die PalästinenserInnen die Unterdrückten. Hinzu komme, dass unter AnarchistInnen falsche Vorstellungen von Antisemitismus und Rassismus existieren: „Der grundlegende Unterschied zwischen beiden Konzepten scheint nicht allen klar zu sein. Deshalb erscheint es ihnen wie ein einzelnes Phänomen“ (S. 131). Sein Fazit lautet: „Es geht um Antisemitismus hier und jetzt. Dabei ist es besonders wichtig, den Antisemitismus in den eigenen Reihen zu thematisieren. Wenn wir dies tun, dann können wir klar gegen jeden Antisemitismus Stellung beziehen und uns schützend/selbst verteidigen [sic!] neben Juden und Jüdinnen stellen“ (S. 131 f.).
In einem weiteren Artikel thematisiert Frederik Fuß nochmals das Versagen der anarchistischen Szene gegenüber der Juden- und Jüdinnenfeindschaft. In aller Deutlichkeit spricht er von einer „Bankrotterklärung des organisierten Anarchismus“ (S. 156). Dabei deckt er zahlreiche ideologische Verblendungen auf, etwa dass der Antisemitismus eine Ideologie des weißen Mannes sei (S. 148), spricht über Schuldabwehr-Antisemitismus und Entlastung im deutschsprachigen Raum, nämlich „die Shoa durch das vermeintliche oder reale Handeln von Jüdinnen und Juden bzw. Israel zu relativieren“ (ebd.), weist den Vorwurf der Apartheid in Israel als „völlig ahistorisch und nicht haltbar“ (S. 150) zurück, sieht in der Bezeichnung von PalästinenserInnen anstatt von AraberInnen „ein Ergebnis der Propaganda der PLO“ (S. 151), da im UN-Teilungsplan vom November 1947 von einem jüdischen und einem arabischen, nicht von einem palästinensischen Staat die Rede war (S. 152), erkennt in der Bezeichnung „palästinensisches Volk“ lediglich eine „Blut und Boden Bindung […], also eine ethnische Schicksalsgemeinschaft, bei der Land und Menschen untrennbar zusammen gehören“ (ebd.), weist darauf hin, dass es neben der arabischen Nakba auch eine jüdische Nakba aus den arabischen Nachbarstaaten nach Israel gegeben habe, dass arabische antisemitische Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung bereits lange vor der Staatsgründung Israels stattgefunden haben (1834, 1921, 1929, 1936-1939 u. a.), und dass Kolonialismus- und Besatzungsvorwürfe an die Adresse Israels zumeist den historischen Kontext vermissen lassen (S. 153).
Antisemitismus ist die älteste, uns bekannte Erscheinungsform der Gruppenfeindschaft. Zu den judenfeindlichen Typologien zählen religiöser, sozialer, kultureller, ökonomischer, nationalistischer, rassistischer, eliminatorischer und israelbezogener Antisemitismus, letzter wird besonders in linkspolitischen Milieus, im Wissenschafts- und Kulturbetrieb sowie in akademisch gebildeten Bevölkerungskreisen – viele Menschen in der anarchistischen Szene haben einen akademischen Hintergrund – vertreten. Das Thema Israel und Nahostkonflikt wird vermeintlich als ‚kritische Auseinandersetzung‘ behandelt, tatsächlich verbreitet werden allerdings judenfeindliche Stereotype und israelfeindliche Ressentiments.
Seit der Shoah zählt auch der ‚sekundäre Antisemitismus‘ zu den Erscheinungsformen der Judenfeindschaft. Dieser tritt als Schuldabwehr-Antisemitismus bzw. als ‚Antisemitismus wegen Auschwitz‘ auf. Die Weigerung, die nationalsozialistische Vergangenheit in den eigenen Herkunftsfamilien aufzuarbeiten, geht einher mit einer Erinnerungs- und Schuldabwehr und einer Opfer-Täter-Umkehr. Heute beinhaltet Antisemitismus sämtliche historischen Erscheinungsformen der Judenfeindschaft und meint Feindschaft gegen Jüdinnen und Juden als jüdische Menschen und deren gesamte Lebensform(en). Antisemitismus ist ein tiefsitzendes Ressentiment, also mehr als ein religiöses oder soziales Vorurteil und auch mehr als Xenophobie; es phantasiert, dass die Ursache aller Probleme allein in der Existenz des Juden zu suchen sei.
Die Historikerin Shulamit Volkov definiert Antisemitismus als „kulturellen Code“, der unsere gesamte Kultur, unser privates und öffentliches Leben, auch das von anarchistisch gesinnten Menschen, bis heute durchsetzt.3 Antisemitismus gründet auf missglückter Emanzipation. Die Bekämpfung der Judeophobie misslingt erfahrungsgemäß deshalb, weil diese sich – da Antisemitismus primär als Gefühl und Ressentiment sichtbar wird – rationalen, wissensbasierten Sachargumenten entzieht und gegenüber einer vernunftgemäßen Aufklärung vielfach als resistent erweist. Auch (politische) Bildung, so unerlässlich sie bleibt, immunisiert nicht automatisch gegen Judenhass.
So notwendig die anhaltende Aufklärung über den Antisemitismus ist, sie scheitert bislang an den Grenzen der modernen, unabgeschlossenen Aufklärung und der Resistenz gegen sämtliche Aufklärungsbemühungen. Angesicht einer in den letzten Jahren dramatisch ansteigenden Zahl antisemitisch motivierter Straftaten und eines öffentlichen Verbal-Antisemitismus in der Mehrheitsgesellschaft, bleibt zu hoffen, dass nicht wieder zwölf Jahre vergehen, bis eine weitere (Buch-)Publikation zum Verhältnis von Anarchismus und Antisemitismus erscheint. Eine anarchistische Gesellschaft wird nur dann eine Perspektive haben, wenn sie sich sämtlichen Herrschafts- und Unterdrückungsformen stellt, und dazu zählt im deutschsprachigen Raum vor allem die aktuell wieder dramatisch zunehmende Feindschaft gegenüber Juden und Jüdinnen. AnarchistInnen müssen sich, so Rudolf Mühland, nicht nur „schützend vor Juden/Jüdinnen stellen“, sondern „Verbündete im Kampf gegen Antisemitismus sein“ (S. 132, Anm. 14).
Siegbert Wolf
Anmerkungen:
1 Zoe Baker: Bakunin was a Racist (2021), anarchozoe.com (online).
2 Jürgen Mümken / Siegbert Wolf (Hrsg.): „Antisemit, das geht nicht unter Menschen“. Anarchistische Positionen zu Antisemitismus, Zionismus und Israel, Lich / Hessen: Verlag Edition AV, Bd. 1: Von Proudhon bis zur Staatsgründung (2013), Bd. 2: Von der Staatsgründung bis heute (2014).
3 Vgl. Shulamit Volkov: Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays, 2., erweiterte Auflage, München: Beck, 2000, S. 13-36.
Quelle: espero Nr. 11, Juli 2025, S. 281-287.