Als Adam grub und Eva spann – Herrschaftsfeindschaft in der Hebräischen Bibel

Von Rüdiger Haude, Matthes & Seitz, 2023 (= Fröhliche Wissenschaft; Bd. 218), Softcover, 140 Seiten, 978-3-7518-0574-2, 25,00 € 

Eine „frohe Botschaft“ . . . der Anarchie!

Rüdiger Haude lehrt historisch orientierte Kulturwissenschaft an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) in Aachen und forscht u. a. zu den kulturellen Bedingungen herrschaftsfreien Zusammenlebens. Sein Interesse gilt also den Phänomenen der gelebten Anarchie. In seinem Buch Als Adam grub und Eva spann setzt sich Haude in vier Aufsätzen mit der herrschaftskritischen Tradition der Hebräischen Bibel auseinander. Mit dem Titel des Buches greift Haude einen Aus­spruch des englischen Priesters John Ball aus dem 14. Jahrhundert auf, der mit seinen aufrührerischen Predigten den großen Bauernaufstand von 1381 in England ausgelöst hatte. Sein Ausspruch bringt die biblisch begründete Kritik an Herrschaft und sozialer Ungleichheit zum Ausdruck, die den inhaltlichen Schwerpunkt des Buches bildet.

Haude macht in seinen Beiträgen deutlich, dass die Bibel nicht nur als religiöses Buch zur Legitimation von Herrschaft zu verstehen ist, sondern dass sie in unterschiedlichen historischen Epochen und politischen Kontexten immer auch als Quelle von Widerstand, Emanzipation und sozialer Gerechtigkeit gedient hat. Seine Beiträge verdeutlichen, wie die historisch-kritische Bibelexegese dazu beitragen kann, herrschaftskritische Elemente in der Bibel zu identifizieren.

In seinem ersten Beitrag würdigt Haude die Bedeutung des 2015 verstorbenen deutschen Ethnologen und Soziologen Christian Sigrist für das herrschaftskritische Paradigma der Bibelexegese und stellt sie in ihrem ideengeschichtlichen Kontext vor. Sigrist hatte in seiner 1967 erschienenen Studie Regulierte Anarchie segmentäre Gesellschaften in Afrika untersucht, in denen Verwandtschaftsstrukturen das politische Regulativ liefern, das andernorts durch herrschaftliche Gewalt ersetzt wird. Diese anarchischen Gesellschaften, wie man sie in Afrika beispielsweise bei den Nuer im Südsudan, den Tiv in Nigeria oder den Tallensi in Nordghana vorfindet, hatten eine recht genaue Analogie in den zwölf Stämmen Israels, von denen in der Bibel die Rede ist. Sigrists Buch hatte daher großen Einfluss auf die alttestamentliche Forschung. Es wurde zum Paradigma, das vormonarchische Israel als eine regulierte Anarchie ohne staatliche Herrschaft zu betrachten. Sigrists Forschungsansatz wurde in den 1970er und 1980er Jahren von der deutschsprachigen alttestamentlichen Forschung aufgegriffen, insbesondere von Frank Crüsemann, Christa Schäfer-Lichtenberger, Rainer Albertz, Rainer Neu und Norbert Lohfink, die in ihren Arbeiten sowohl die Herrschaftslosigkeit als auch die antiherrschaftlichen Traditionen im Alten Testament aus theologischer Perspektive analysierten und dokumentierten.

An das Paradigma vom alten Israel als einer regulierten Anarchie knüpfen aus unterschiedlichen Blickwinkeln auch die folgenden drei Beiträge des Buches an. Im zweiten Aufsatz geht Haude der Frage nach, ob und wie die Einführung der alphabetischen Schrift im vormonarchischen Israel zu einer demokratischen Gesellschaftsstruktur beigetragen hat. Dabei widerspricht er der weit verbreiteten Annahme, dass die Schrift für die Ent­stehung von Demokratie zwingend notwendig sei. Vielmehr gab es in vorstaatlichen Gesellschaften ausgeprägte demokratische Strukturen, die auf Face-to-Face-Kommunikation beruhten. Auch die griechische Demokratie der Polis basierte auf mündlicher Rede, nicht auf Schriftkultur.

Dennoch sieht der Autor im vormonarchischen Israel einen historischen Sonderfall, in dem die Einführung des Alphabets tatsächlich mit demokratischen Strukturen verbunden war. Er erklärt dies mit der symbolischen Abgrenzung zur ägyptischen und mesopotamischen Schriftkultur der damaligen Großmächte. Die leicht erlernbare hebräische Konsonantenschrift wurde zum Ausdruck herrschaftsfeindlicher Bestrebungen. Indizien dafür sieht der Autor in der Vielfalt der frühen Schriftzeugnisse, die er auf eine breite Literalität zurückführt. Er plädiert daher dafür, alphabetische Schriftlichkeit nicht schematisch mit Demokratie in Verbindung zu bringen, sondern den jeweiligen historischen Kontext zu berücksichtigen. Die Demokratie im vormonarchischen Israel, die auf radikaler Dezentralisierung und imperativem Mandat beruhte, wies Ähnlichkeiten mit späteren anarchistischen Demokratiekonzepten auf. Haude hat das judäische Israel deshalb an anderer Stelle auch als „anarchistische Hochkultur“ bezeichnet, womit er zum Ausdruck bringen wollte, dass die Abwesenheit von Herrschaft in der Richterzeit von einer ausgeprägten Intentionalität geprägt war: „Diese Menschen wussten, was der Staat bedeutet, und deswegen lehnten sie ihn ab. ‚Hochkultur‘ sollte darauf hinweisen, dass es sich um eine Gesellschaft handelte, die mit der Schrift eines der entscheidenden Kriterien erfüllte, um als ‚Zivilisation‘ bezeichnet zu werden.“ (S. 27)

In seinem dritten Beitrag interpretiert der Autor die biblische Geschichte vom Turmbau zu Babel als implizite Kritik an der Entstehung von Herrschaft. Die Geschichte lasse sich, so Haude, als paradigmatische Gegenüberstellung von anarchisch organisierter segmentärer Gesellschaft und frühem Staat lesen. Die zentralen Aspekte des biblischen Textes – wie Stadt, Turm und Sprachverwirrung – dienen dabei als Symbole für den Übergang von egalitären zu hierarchischen Gesellschaftsformen. Den Bau des Turms, der bis in den Himmel reichen soll, interpretiert Haude als „monumentalen“ oder „imperialen Diskurs“, der Einheit schaffen soll, wo sie ethnisch, sprachlich, kulturell oder politisch nicht gegeben ist. Demgegenüber interpretiert er die von Gott herbeigeführte Sprachverwirrung als Maßnahme zur Wiederherstellung herrschaftsfreier Gemeinschaften, die es den Menschen ermöglicht, wieder in einer Weise miteinander zu leben, in der niemand über den anderen herrscht. Auch in dieser biblischen Parabel zeigt sich die Ähnlichkeit zu anarchistischen Organisa­tionsprinzipien, in denen Macht nicht zentralisiert, sondern verteilt wird, was dazu beiträgt, das Entstehen von Herrschaft zu verhindern.

Um die Verhinderung von Herrschaft geht es auch im letzten Beitrag des Buches, in dem sich Haude mit der altbiblischen Geschichte von Jona, dem unwilligen Propheten, beschäftigt. Kurzgefasst geht die Geschichte so: Der Prophet Jona versucht, sich seiner von Gott erteilten Mission durch Flucht auf einem Schiff zu entziehen. Das Schiff gerät in einen schweren Sturm und die Seeleute werfen Jona ins Meer, um den Zorn Gottes über den widerspenstigen Propheten zu besänftigen. In den Fluten wird Jona von einem großen Fisch verschluckt und verbringt drei Tage im Bauch des Fisches. Während dieser Zeit betet er zu Gott und bereut seine Flucht. Schließlich spuckt der Fisch Jona wieder aus, und Jona macht sich auf den Weg, um Gottes Mission zu erfüllen.

Die Geschichte vermittelt in der traditionellen Interpretation die Bedeutung des Gehorsams gegenüber Gott und das Versprechen seiner Barmherzigkeit im Falle von Reue und Umkehr. Nach Haude kann die Geschichte aber auch als implizite Kritik an der Notwendigkeit von Herrschaft gelesen werden, wofür häufig die Seefahrt und die Navigation eines Schiffes als Beispiel herangezogen werden. Eine Analyse der Handlungen des in der Jona-Geschichte auftretenden „Kielherrn“ (Steuermann) und der ihm in der Schiffshierarchie untergeordneten „Seeleute“ zeige, so Haude, dass letztere alle entscheidenden Handlungen zur Rettung des Schiffes aus Seenot ohne Anweisung von oben selbstständig und kollektiv ausführten. Der „Kielherr“ spielte bei der Rettung des Schiffes so gut wie keine Rolle. So erscheint die Jona-Geschichte als paradigmatische Infragestellung der vermeintlichen Notwendigkeit von Herrschaft gerade in Krisensituationen. Selbstorganisiertes kollektives Handeln wird demgegenüber als herrschaftsfreie demokratische Alternative dargestellt.

Das Buch von Rüdiger Haude über das Phänomen der Herrschaftsfeindschaft in der Hebräischen Bibel ist eine kleine Perle der libertären Kultur­wissenschaft. In einem Bereich, in dem man es nicht vermuten würde, im Bereich der Religion, zeigt sich, dass die Kultur der gelebten Anarchie viel verbreiteter und prägender für die Menschheit war, als gemeinhin angenommen wird. Indem Haude in seinen Aufsätzen die gängigen Bibelinterpretationen aus verschiedenen Blickwinkeln gegen ihren herrschaftsfixierten Strich kämmt, werden die Konturen einer herrschaftsfreien egalitären Kultur sichtbar, die sich als eine herausfordernde Botschaft der Anarchie im „Buch der Bücher“ entdecken lässt. Was den Rezensenten freut und die Botschaft der Anarchie auch zu einer „frohen Botschaft“ macht..

Jochen Schmück

Quelle: espero Nr. 8, Januar 2024, S. 374-377.

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