Corona und die Demokratie

Corona und die Demokratie. Eine linke Kritik, hrsg. von Gerald Grüneklee, Clemens Heni und Peter Nowak , mit einem Geleitwort von Rebecca Niazi-Shahabi, Berlin: Edition Critic, 2020, Paperback, 190 Seiten, ISBN: 978-3-946193-33-3, 14,00 €

Im Dezember 2019 begannen in Deutsch­land die Medien über eine neue, sich schnell verbreitende Krankheit zu berichten, die in China ihren Ursprung hatte – Corona. Auf das anfängliche Abtun als eine „normale Grippe“ folgte die Assoziation mit der „spanischen Grip­pe“, einer der größten Pandemien des 20. Jahrhunderts – mit den entsprechenden Ängsten verknüpft. Die Corona-Pandemie sorgt(e) für den größten Stillstand in Deutschland seit dem Ende des II. Weltkrieges. In einem bis dato nicht gekannten Ausmaß wurden demokratische Grundrechte – ohne großen Widerstand – zu Gunsten des Infektionsschutzes eingeschränkt – Lockdown, Schulschließungen, Ein­schränkung des Versammlungsrechts und Maskenpflicht. Clemens Heni schreibt polemisch: „Als ‚Experten‘ geadelte ‚Virologen‘ leisten sich derzeit täglich Übersprunghandlungen und schüren eine Panik, die weit über die fanatische Hetze gegen Sympathisant*innen der RAF im Herbst 1977 hinausgehen“ (S. 77).

Parlamentarisch kam nur wenig Protest bzw. war dieser relativ leise. Die FDP kramte in der geistesgeschichtlichen Mottenkiste und bemühte Karl Popper (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde) und auch die linken Parteien kläfften etwas, aber im Großen und Ganzen gab es parlamentarisch – bis auf den rechten Rand – eine gewisse Einheit. Auch die außerparlamentarische Linke verfiel (anfangs) in eine Schockstarre. Gegen jene Schockstarre anzuschreiben, benennen die Autoren als Beweggrund, diese Streitschrift zu verfassen: „Wir Autoren haben diese Schriften nicht zuletzt zusammengetragen aus dem Impuls der Empörung und der Wut über das, was sich in den letzten Wochen abspielte, in der Welt, in Deutschland, nicht zuletzt aber in der Linken. Herz und Verstand betrachten wir immer als Dinge, die zusammengehören. Nun ist das Herz noch übriggeblieben, das schier überquillt vor Sorge, vor Mitleid. Mitfühlen mit den Risikogruppen, die dabei gar nicht nach ihrer Meinung gefragt werden. Risikogruppen sind die neuen Kolonialisierten. [sic!] Der Verstand ist dabei auf der Strecke geblieben“ (S. 15).

In mehreren aufeinander aufbauenden Kapiteln, die jeweils von einem aus ihrer Runde verfasst wurden, werden unterschiedliche Facetten beleuchtet. Dabei fällt auf, dass der letzte Teil – eine Sammlung von Blog- und Zeitungsbeiträgen von Peter Nowak – aus der Rolle tanzt. Dieser Teil wirkt wie ein Anhang zum restlichen Text. Gemeinsam ist ihnen, was Gerald Grüneklee eingangs schreibt: „Mir machen andere Dinge mehr Sorgen als das Virus selbst“ (S. 20). So thematisiert er eine Reihe von Folgen der Eindämmungspolitik von Corona und stellt wichtige Fragen: „Was genau ist es denn, was die Menschen nun dermaßen vor dem Coronavirus ängstigt? Warum wird jetzt staatlicherseits und auch individuell reagiert, wie reagiert wird? Weil die Bedrohung neuartig ist? Weil wir gegen alles andere schon abgestumpft sind?“ (S. 22 f.). Mehrere darin geäußerte Annahmen und Argumente können mittlerweile – vor dem aktuellen Forschungsstand – als widerlegt gelten. So schreibt z.B. Grüneklee: „Sie [die Studie von 2012 bezüglich einer Pandemie] beinhaltet eine Risikoanalyse zum Bevölkerungsschutz. Darin wird exakt das Szenario von Corona beschrieben“ (S. 18). Die hier benannte Studie existiert zwar, geht aber von einer völlig anderen Sterblichkeits- und Übertragungsrate aus. Inwiefern einzelne Argumentationslinien unter Berücksichtigung der neuen Fakten bzw. des derzeit als gesichert geltenden Wissens partiell in sich zusammenbrechen, möchte ich hier nicht beurteilen.

Die hier angeführte Studie geistert bis heute als Argumentationsgrundlage in den Kreisen der Verschwörungstheoretiker umher, von denen sich die drei Autoren mehrfach klar und sehr deutlich abgrenzen. Ähnlich verhält es sich in Bezug auf die Spekulationen über den Einfluss von Bill Gates auf die WHO dank seiner Spenden. Auch hier bewegt man sich gefährlich nahe an Verschwörungstheorien und übersieht die längst publizierten und seriösen Analysen über den Einfluss der Spendengelder auf die WHO, die nüchterner ausfallen, als es auf den ersten Blick scheint. Auch fällt eine sehr vereinfachte, pauschalisierende und populistisch anmutende Medienschelte auf. Clemens Heni schreibt u.a.: „Auch viele ‚Linke‘ wie Autorinnen der linken Version der Jungen Freiheit (Jungle World) outen sich jetzt als Deutsche…“ (S. 95 f.). Hier würde man sich – gerade vor dem Hintergrund der Biographien der Autoren – eine differenziertere Blickweise wünschen.

Ein Fakt ist, dass im ersten Teil von Gerald Grüneklee bei der Aufzählung von „Opfern“ des Lockdown sehr gut in die Wunde getroffen wird. Hier zeigt sich, inwiefern eine Abwägung des Schutzes von unterschiedlichen Gruppen stiefmütterlich behandelt wurde. Naturwissenschaftliche – konkret virologische – Erkenntnisse wurden absolut gesetzt und als Legitimation und Maßstab für den Bevölkerungsschutz genommen, während sozialpsychologische und soziologische Erkenntnisse – wie der Zusammenhang von Isolation und vermehrter Gewalt gegen Frauen und Kinder – ignoriert bzw. zu spät in die Überlegungen einbezogen wurden. Dies wird auch von Grüneklee auf den Punkt gebracht: „Die einzige Wissenschaft, die zählt, das einzige Welterklärungsmodell [Gesundheitspolitik], das zählt. Jurist_innen, Pädagog_innen, Soziolog_innen, Philosoph_innen, Biolog_innen (außer solchen, die sich mit Viren beschäftigen): obsolet“ (S. 56).

Die partielle Fokussierung auf die These „Das Coronavirus erzählt von der Verletzlichkeit des Menschen unter dem Kapitalismus, von seiner Abhängigkeit von einem barbarischen, ausbeuterischen Wirtschaftssystem, das alle Bereiche des Lebens durchzieht – so auch das Gesundheitswesen und die sozialen Beziehungen des Menschen“ (S. 25) halte ich hingegen für schwach. Hier fehlt mir ein nachvollziehbarer Argumentationsstrang – auch wenn fraglos die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens eine Perversion darstellt.

Ein anderer Aspekt ist die Furcht vor dem Erstarken eines „autoritären Staates“. So zitiert Grüneklee seinen Co-Autoren Clemens Heni mit den Worten: „Angst zu schüren, um das als Legitimation des Abbaus von Menschen- und Freiheitsrechten zu benutzen, war schon immer eine Hauptingredienz von Faschismus“ (S. 37). Die Antwort der Autoren darauf ist aber nicht das Pochen auf das Grundgesetz bzw. dessen Einhaltung, d.h. sie brechen damit erfrischend aus dem systemimmanenten Protest aus und wehren sich gegen die rechten Vereinnahmungsversuche von Protesten gegen die Corona-Beschränkungen.

„Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“, heißt es in Hegels Rechtsphilosophie. Hegel wollte damit ausdrücken, dass sich Erkenntnisse erst mit Verzögerung in Wissen niederschlagen. Die Stellungnahme der drei Autoren beruht z.T. auf tages­aktuellen Ereignissen und dem damaligen Wissen, was teilweise als überholt zu gelten hat – z.B. die von Grüneklee als fehlend beklagten öffentlich wahrgenommenen Wissenschaftsdebatten (vgl. S. 21). Manche geäußerten Befürchtungen dürften mittlerweile ausgeräumt sein und neue Aspekte, die einer kritischen Beleuchtung harren, kamen stattdessen hinzu. So geht es längst nicht mehr nur um Risikogruppen, sondern auch um die „Normalbevölkerung“, die an gesundheitlichen Langzeitfolgen dieser Erkrankung zu leiden droht, und auch Kinder und Jugendliche erlagen auf Corona zurückführbaren Symptomen. Kommentierung seitens der linken und linksradikalen Szene, wie z.B. der viral gelaufenen Erklärung des Crimethink-Kollektivs, finden (leider) auch keine Berücksichtigung in der Analyse. Manche Formulierung stößt mir bitter auf – sei es, wenn die Autoren von Risikogruppen als „Kolonialisierten“ (S. 15) oder vom „Gesundheitsfaschismus“ (S. 125) schreiben.

Dennoch ist dieser Band ein wichtiger Beitrag zur linken Debatte um den adäquaten Umgang mit einem, durch die Bekämpfung einer Pandemie gerechtfertigten (zeitweiligen?) Abbau von Grundrechten. Man sollte es als Zeitdokument und Mahnruf rezipieren – weniger als endgültige Analyse. Die geäußerte Kritik enthält einige sehr wichtige Facetten, die zum (Nach- und Weiter-)Denken anregen. Darin liegt eine Stärke des Bandes – trotz aller oben genannten Kritik.

Maurice Schuhmann

Quelle: espero Nr. 2, Januar 2021, S. 207-210.