Für die Erde gilt Alarmstufe Rot“, zu diesem Ergebnis kamen unlängst Forscher:innen um den US-Ökologen William J. Ripple von der Oregon State University in ihrer im Fachjournal BioScience veröffentlichten Weltklima-Studie. Denn, so die Wissenschaftler: „Die Menschheit befindet sich inzwischen eindeutig in einem Klima-Notfall“. Flutkatastrophen, Waldbrände, Hitzewellen – die globale Klimakrise lässt sich nicht mehr ignorieren.
„Wir sind an einem Punkt angelangt“, so der US-amerikanische Öko-Anarchist John P. Clark in seinem Kommentar zur vorliegenden Ausgabe der espero, „an dem nicht nur das Gedeihen des Lebens auf der Erde, sondern auch sein Überleben nur möglich ist, wenn das System der Herrschaft zerstört und die natürliche Gerechtigkeit wiederhergestellt wird.“ Was Clark unter einem System der „natürlichen Gerechtigkeit“ versteht, das erläutert er in seinem ebenfalls in dieser Ausgabe veröffentlichten Beitrag Was ist Öko-Anarchismus?.
Und als ob die globale Klimakrise nicht schon verheerend genug wäre (von den Folgen der Corona-Krise und der mächtig ins Schlingern geratenen Weltwirtschaft ganz zu schweigen), tobt nun schon seit zehn Monaten in der Ukraine ein Krieg, wie man ihn in Europa in dieser menschenverachtenden Vernichtungswut seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr erlebt hat. Der terroristische Angriffskrieg, den Russland seit dem 24. Februar 2022 gegen die Ukraine führt, ist jedoch nicht nur ein imperialistischer Feldzug einer Großmacht gegen ein vermeintlich schwächeres Nachbarland, sondern es ist vor allem auch ein Krieg, den das Putin-Regime gegen die eigene Zivilgesellschaft führt. Trotz massiver staatlicher Repressionen ebben die Anti-Kriegs-Proteste in Russland nicht ab. Laut OVD, einer russischen Nichtregierungsorganisation, die eine Statistik über politisch motivierte Verhaftungen führt, wurden in Russland seit Kriegsbeginn über 19.300 Menschen wegen ihrer Opposition gegen Krieg und Putin-Regime verhaftet. Zudem sind inzwischen Hunderttausende Russen ins Ausland geflüchtet, um sich der Rekrutierung und dem Kriegseinsatz zu entziehen, und unter den verbliebenen russischen Soldaten und Rekruten, die sich nicht für Putins Großmachtfantasien an der Front „verheizen“ lassen wollen, kommt es immer häufiger zu Unruhen und Revolten.
Krieg gegen das eigene Volk führt auch das islamistisch-faschistische Mullah-Regime im Iran. Seit dem 16. September 2022, dem Tag der Ermordung der jungen Kurdin Jina Amini durch die iranische Sittenpolizei, ist es landesweit zu Protesten gekommen, auf die das Regime mit aller Härte reagierte. So wurde in mehreren Städten gezielt in die Menge der Demonstrant:innen geschossen. Laut Schätzungen internationaler Menschenrechtler wurden bei der Niederschlagung von Demonstrationen bislang mehr als 470 Menschen von staatlichen Sicherheitskräften umgebracht, und 18.000 Regimegegner:innen wurden seit Mitte September in Foltergefängnissen inhaftiert. Ihre Proteste machen deutlich, dass es den Demonstrant:innen im Iran längst nicht mehr „nur“ um den Kopftuchzwang und um die Frauenrechte im Allgemeinen geht, sondern vor allem auch um das Ende der 43-jährigen Theokratie.
Sowohl in Russland als auch im Iran steigen also Wut und Widerstandsbereitschaft der Bevölkerung gegen die herrschenden Diktaturen. Revolution liegt in der Luft. Mit Revolution als radikalem Mittel der Gesellschaftstransformation haben sich die Anarchist:innen in ihrer Geschichte schon immer intensiv beschäftigt. Und das nicht nur theoretisch, denn seit der Pariser Commune von 1871 hat es kaum eine sozialrevolutionäre Erhebung auf der Welt gegeben, für die sich nicht auch eine mehr oder weniger deutliche Präsenz von Anarchist:innen nachweisen ließe. Aber in nur wenigen Fällen, wie in der Russischen Revolution, speziell in der Ukraine in den Jahren 1917-1921, sowie in der Spanischen Revolution in den Jahren 1936-1939, war es den anarchistischen und verwandten libertären Bewegungen zumindest zeitweise möglich, ihre Konzepte auf praktische Machbarkeit hin zu überprüfen. Nach dem Sieg der Franco-Faschisten 1939 in Spanien, der das Scheitern der Spanischen Revolution militärisch-politisch besiegelte, mehrten sich innerhalb der internationalen anarchistischen Bewegung die Stimmen, welche eine selbstkritische Befragung des bis dahin bevorzugten Modells von Gesellschaftsveränderung und Revolution einforderten.
Im Zuge dieser ideologischen Revision erreichte der anarchistische Diskurs über einige Jahrzehnte hinweg einen inhaltlichen Stand, der in vielem noch heute inspirierend wirkt. Exemplarisch hierfür steht Rudolf Rocker mit seiner Warnung vor mythologischen Überhöhungen revolutionärer Ansprüche. Er weist nachdrücklich darauf hin, dass eine Revolution nur dann etwas emanzipatorisch Neues schaffen kann, wenn dieses Neue schon zuvor im Denken, in den Beziehungen und im schöpferischen Tätig-Sein der Menschen konkret geworden ist und auf Bruch der Fesseln drängt. Eine derartige Sichtweise knüpft an die geschichtsphilosophischen Überlegungen an, die Gustav Landauer bereits 1907 in der Schrift Die Revolution ausbreitete. Unser diesmaliger Themenschwerpunkt zur Beziehung von Anarchismus und Revolution beginnt daher noch vor Rockers Aufsatz aus dem Jahr 1952 mit einem Beitrag von Siegbert Wolf über Landauers Geschichts- und Revolutionsverständnis. Darin scheint eine experimentalsozialistische Perspektive auf, die gesellschaftliche Transformation nicht als einmaligen „Tag der Wende“, sondern als Ergebnis einer langen, subversiven Vorbereitung innerhalb der alten Gesellschaft begreift.
Dass deren radikale Umgestaltung dann am wahrscheinlichsten wird, wenn wir zusätzlich all die kleinen Systemstörungen befördern, die alltagspraktisch unserer Reichweite unterliegen, erläutert Tomás Ibáñez. Auch Uri Gordon wendet sich gegen ein revolutionäres Denken, das alle gesellschaftlichen Teilbereiche mechanistisch auf einen imaginären Dreh- und Angelpunkt ausrichten will. Als Gegenmodell thematisiert sein Beitrag die neueren poststrukturalistischen, intersektionalen und queeren Analysen, die das Konzept der Revolution von Endgültigkeitsversprechen und von der inhaltlichen Begrenzung auf die Abschaffung formaler Institutionen befreit haben.
Herrschaftsregime sind vielgestaltig und die inhaltlichen Schwerpunkte der dagegen Kämpfenden unterschiedlich. Auf dem Weg zu einem tragfähigen Revolutionskonzept brauchen wir daher eine anarchistische Synthese, über die sich gemeinsame Prinzipien definieren, Strategien festlegen und Taktiken koordinieren lassen. Dieser These im Beitrag von Gabriel Kuhn begegnet Johann Bauer mit einer gewissen Skepsis. Sein Beitrag, der ein konsequent gewaltfreies Revolutionsverständnis entfaltet und auf dieser Grundlage Fragen nach aktuellen Aufgaben des Anarchismus stellt, beendet unseren diesmaligen Themenschwerpunkt.
Aber auch unabhängig von einer erklärt revolutionären Perspektive bezieht sich libertäres Denken und Handeln immer auf eine Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse. Das ist die inhaltliche Grundmelodie, welche die übrigen Beiträge unserer neuen espero-Ausgabe bei aller thematischen Unterschiedlichkeit verbindet.
Dem Leben und Werk von Henry David Thoreau – einem der wichtigsten Vordenker zivilen Ungehorsams gegen Staat, Armee und Eigentum – widmet Marlies Wanka eine durchaus kritische Untersuchung. Bernhard Rusch analysiert die von Franz Jung herausgegebene Zeitschrift Gegner und verdeutlicht an deren erfolglosem Kampf gegen die aufkommende Nazi-Diktatur ein uns heute wieder bedrängendes Phänomen: Eine Veränderungsbereitschaft, die aus krassem sozialen Ungleichgewicht resultiert, nützt vor allem Rechtsextremen. Gegenwartsbezüge liefert ebenfalls der Vorabausdruck aus dem neuen Buch von Rolf Raasch. Es behandelt das mexikanische Exil des anarchistischen Schriftstellers B. Traven und verknüpft dessen literarisches Werk mit der aktuellen Lage Mexikos. Kunst und Politik sind zwei sich ergänzende Leidenschaften eines wachen Bewusstseins. Diesem Anspruch fühlt sich auch Ralf Burnicki verpflichtet, dessen Beitrag uns ein Fenster in die faszinierende Welt seiner „Anarcho-Poetry“ öffnet.
Es schließen sich zwei Buchrezensionen und eine Filmkritik an. Auch sie stehen jede auf ihre Art für die Einsicht, dass eine humane und selbstbestimmte Zukunft nur durch den mentalen Gehalt der Hoffnung und durch unser gemeinsames Handeln in der Welt entstehen kann.
Wieder möchten wir uns bei unseren Autor:innen und allen anderen Menschen bedanken, ohne deren Hilfsbereitschaft und Einsatz die Herausgabe dieser Zeitschrift gar nicht möglich wäre.
Das espero-Redaktionskollektiv:
Markus Henning, Jochen Knoblauch, Rolf Raasch und Jochen Schmück
in Berlin, Frankfurt am Main und Potsdam