Meister Eckarts Mystische Schriften. Von Gustav Landauer. Herausgegeben und mit einer Einleitung, Zeittafel und einem Namensregister versehen von Siegbert Wolf, Bodenburg: Edition AV, 2019 (= Gustav Landauer Ausgewählte Schriften; Bd. 15), 228 Seiten, 978-3-9820783-209-3, 18,00€ [Direktkauf bei aLibro]
„Ihr tragt doch alle Wahrheit wesenhaft in euch!“ Gustav Landauer und Meister Eckharts Anarcho-Messianismus.
Viele denken zu früh, es sei zu spät: Zu isoliert die Einzelnen! Zu zersplittert ihre Lebenswelt! In ihr bieten Änderungsversuche immer nur einen Ausblick auf neue Zwangsgemeinschaften. Vielleicht ist die Blickrichtung aber einfach falsch, setzt ihre Hoffnungen zu mechanisch auf äußere Revolutionierung.
Das meinte jedenfalls Gustav Landauer. Um zum emanzipatorischen Umbau überhaupt fähig zu werden, müssen die Menschen sich zunächst innerlich neu erschaffen. Zeitlich begrenzt gilt es einen Schritt zurück zu treten, raus aus dem gesellschaftlichen Getriebe mit seiner entfremdeten Zweckhaftigkeit. Die Versenkung ins eigene Innenleben öffnet mentale Räume, in denen Verloren gegangenes neu erfahrbar wird: Die ursprüngliche Einheit von Ich, Menschheit und Welt. Erst wenn wir dieses Ich in seinem sozialen Weltbezug wiedergefunden haben und als weltumspannendes Gefühl leben, können wir uns authentisch mit anderen verbinden und kommunitäre Anarchie ins Werk setzen.
Landauers Konzept „Durch Absonderung zur Gemeinschaft“ verdankt sich einer Inspirationsquelle aus dem Spätmittelalter: Meister Eckhart von Hochheim (1260-1328), dem sprachgewaltigen Dominikaner, spirituellen Gottsucher und ketzerischen Gratwanderer zwischen Philosophie und Theologie. Von Eckharts mystischen Predigten, Traktaten, Fragmenten und Sprüchen fühlte Landauer sich tief berührt. 1903 veröffentlichte er eine Auswahl, von ihm selbst aus dem Mittelhochdeutschen übersetzt.
Eine Neuausgabe ist soeben erschienen als Band 15 von Landauers „Ausgewählten Schriften“. Mit seiner textkritischen Bearbeitung schlägt Herausgeber Siegbert Wolf erhellende Schneisen durch das historische Material. Sie führen zum aufklärerischen Kern von Eckharts Religiosität, zum herrschaftskritischen Gehalt seiner Mystik, zur Sozialorientierung seiner Frömmigkeit. „Den gerechten Menschen ist es so ernst mit der Gerechtigkeit, dass sie, gesetzt den Fall, Gott wäre nicht gerecht, nicht eine Bohne sich um Gott kümmerten“ (Fragment Nr. 17, S. 152).
Eckhart geht es um einen direkten Zugang zu dem, was gemeinhin als Gott bezeichnet wird, was Eckhart selbst mit dem Sein gleichsetzt, was als mystisches Vereinigungserlebnis jedoch unaussprechbar und unvorstellbar ist. In einem Akt unumschränkter Selbstbestimmung gestattet der einzelne Mensch seiner Seele für einen Augenblick, in diese Vereinigung „hinaufgezogen“ zu werden und das Ein-Alles zu schauen. Umschrieben werden kann das nur mit der präzisen Unschärfe poetischen Ausdrucks: „Seht, darum liebet Gott, dann werdet ihr Gott mit Gott. Davon will ich nichts weiter sagen“ (Traktat Nr. 1, S. 121). Die mystische Wiedergeburt hat abgeschiedene Beschaulichkeit zur Voraussetzung. Auch bei Eckhart steht hernach der erneute Gang ins tätig wirkende Leben an. Die Erfüllten sollen im Sozialen ausgießen. „Nötiger wäre ein Lebemeister als tausend Lesemeister“ (Spruch Nr. 2, S. 158).
Gustav Landauer griff die Schriften Meister Eckharts primär durch eine politische Perspektive auf. Er interpretierte sie anarchistisch, indem er die Gottesvorstellung Eckharts ersetzte durch die Wiederverbindung von Ich und Welt in freiwilligen Gemeinschaften, Bünden und föderativ vernetzten Assoziationen.
Beide Denker sind sich auch darin einig, dass wirkliche Erneuerung immer möglich ist. Die Menschen können jederzeit damit beginnen. „Wer werden will, was er sein sollte, der muss lassen, was er jetzt ist“ (Spruch Nr. 9, S. 159).
Ein guter Anfang, weil er das Eigene in uns fördert.
Markus Henning
Quelle: espero, Nr. 0 – Januar 2020, S. 84ff.