Himmlers holländische Muse

Himmlers holländische Muse. Die zwei Leben der Baroness Julia Op ten Noort. Von Roel van Duijn, Stuttgart: Schmetterling Verlag, 2020, Paperback, 340 Seiten, 3-89657-179-6, 22,80€

Erweckungserlebnis und Rassenwahn:
Roel van Duijn entschlüsselt den Lebensweg der holländischen Nationalsozialistin Julia Op ten Noort – Ein Lehrstück für die Gegenwart

Was bewegt eine religiöse Idealistin, ihr Leben und ihren politischen Aktivismus auf fanatische Weise für Terror, Krieg und Zivilisationsbruch einzusetzen? Welche Brücken führen aus ihrer großbürgerlichen Kultur bis zur Kommandozentrale des Holocaust?

Das fragt sich Roel van Duijn (geb. 1943) in seiner biographischen Studie zu Julia Op ten Noort (1910-1994). Der Autor und seine Protagonistin sind politische Antipoden. Op ten Noort war niederländische Baroness, eine der bedeutendsten Nazis ihres Landes und persönliche Vertraute von SS-Reichsführer Heinrich Himmler (1900-1945). Der aus der Anti-Kriegsbewegung kommende Van Duijn hingegen war im Amsterdam der 1960er Jahre Mitbegründer und der anarchistischen Provo- und Kabouterbewegung. Fundamental ver Vordenker schiedene Welten und Gedanken. Und doch sind da auch verstörende Momente des Wiedererkennens: „Ich fühlte mich damals als eine Art Berufsrevolutionär. Es gab keinen Unterschied zwischen Arbeit und Privatem. Ich aß und atmete für die neue Gesellschaft, die zum Greifen nahe schien, genau wie Julia es auf ihre Art auch tat“ (S. 10).

Im Fremden scheint Vertrautes auf. Dem setzt Van Duijn sich aus. Während er Archive durchforstet, Nachlässe sichtet, an Orte des Geschehens reist, unzählige Interviews führt und Hilfsdetektive gewinnt, hält er die skeptische Nähe durch. Für ihn als Freiheitsfreund und Antifaschisten ist das eine emotionale Herausforderung. Für das Einfühlen in Op ten Noorts Innenwelt wird es zur Produktivkraft.
Nach und nach erspürt Van Duijn die Dispositionen, die sich im lebenslangen Verhaltensmuster seiner Protagonistin auf fatale Weise verschränkten. In der analytischen Einordnung nimmt seine tiefe Vertrautheit mit anarchistischer Autoritätskritik spürbar Gestalt an.

Julia Op ten Noort entspross einem Milieu von Reichtum, elitärem Dünkel und patriarchalem Autoritarismus. Als niederländischer Adel hielt man viel auf seinen Stammbaum, stand noch fest in der kolonialistischen Tradition rassistischen Denkens, pflegte eine theosophisch angehauchte Religiosität. So viel Ausstrahlung das heranwachsende „Societymädchen“ (S. 45) auch hatte, so willensstark es war, so eigensinnig und auf Selbstständigkeit bedacht: Der familiär überkommenen Logik von männlicher Vorherrschaft und weiblicher Ohnmacht sollte es nie wirklich entkommen. „Es waren in Julias politischem Leben immer Männer, die einer nach dem anderen den spirituellen Platz ihrer jeweiligen Vorgänger einnahmen. […] Julia war empfänglich für die hypnotische Wirkung, die von Tyrannentypen ausgeht“ (S. 294 f.).

Ihr Streben nach Emanzipation nahm autoritär verzerrte Formen an, trieb sie zu einer unbedingten Hingabe an ideelle Heilsversprechen und zu bereitwilliger Unterordnung unter deren Verkünder. Bezeichnend, wie sie die entscheidenden Wendepunkte ihrer Biographie als esoterische Erweckungen und innere Neugeburt erlebte.

Die göttliche Weisheit erfasste sie erstmals 1930 als damals Zwanzigjährige. Ihr bewunderter Prophet wurde der US-amerikanische Prediger Frank Buchmann (1878-1961), autoritärer Führer der christlich-ökumenischen Oxford-Bewegung und Streiter für die überkirchliche Einheit aller Menschen unter direkter Führung Gottes. Im Handumdrehen war ihr missionarischer Eifer entflammt. Sendungsbewusstsein und Gestaltungsdrang führten Op ten Noort binnen Kurzem an die Spitze von Buchmanns internationalem Team.

Als Lobbyistin in der Nachfolge Jesu streckte sie ihre Fühler auch in Richtung Nazi-Deutschland aus, besuchte im Frühjahr 1934 ein SS-Treffen in Schlesien und begegnete dort ihrem neuen Helden: Heinrich Himmler. „Sie war nach Breslau gekommen, um die Führungsleute der Nazis zu bekehren.

Es geschah das genaue Gegenteil. Der esoterische SS-Chef wurde nicht zum Christen und die Evangelistin ließ sich zu einer germanischen Rassistin bekehren. […] Es war der Beginn der himmelhochjauchzenden, enervierenden Jahre […]. Julia […] leerte den runenverzierten germanischen Becher begierig bis zum Boden“ (S. 58 f. und S. 104). Himmlers monströser Wunschtraum von der arischen Wiedergeburt wurde die neue Utopie, mit der sie sich bedingungslos identifizierte: Militanter Antisemitismus und industrieller Massenmord ebenso eingeschlossen wie das Lebensborn-Projekt mit seinen rassistischen Zuchtanstalten. In einer von ihnen brachte Op ten Noort Anfang 1944 mit SS-Weihen ihren Sohn zur Welt.

Wie viele andere Nazi-Täter verschanzte auch sie sich nach Kriegsende hinter einer Mauer des Schweigens. Der SS-Ideologie blieb sie über Jahrzehnte treu, bis sie Himmler durch andere Idole wie Bhagwan (1931-1990) oder Ramakrishna (1836-1886) ersetzte. In fernöstlichen Heilslehren, in Yoga und Meditation fand Op ten Noort sich spirituell wiedergeboren, wurde ab 1975 im hessischen Fulda ansässig und sammelte dort als eindrucksvolle New Age-Prophetin einen Kreis junger Schüler um sich.

Diese konfrontiert Roel van Duijn ein Vierteljahrhundert später mit der Vergangenheit ihrer ehemaligen Gefährtin und Lehrerin. Sie sind fassungslos, hatten nie nachgefragt, befanden sich damals in einer Art spiritueller Narkose. „Deutsche fragen einander nicht nach dem Verhalten ihrer Familie unter Hitler, glaube ich, aus Angst, dass dann nach dem eigenen Verhalten oder dem ihrer Eltern gefragt werden wird“ (S. 290).

Van Duijn hat ein im besten Sinne aufklärerisches Buch vorgelegt. Es ist hervorragend recherchiert, rückt vergessene Sachverhalte in neues Licht, ist spannend geschrieben und weit mehr als eine bloß historische Abhandlung.

Heute, nach über einem Jahr der Pandemie, liest sich Van Duijns feinfühlige Untersuchung wie ein Kommentar zum aktuellen Zeitgeschehen. Beim Aufstand der Corona-Leugner sehen wir erneut die frisch Erweckten, sehen ihren Irrationalismus, sehen die von Verschwörungsmythen Beseelten, sehen, wie selbsternannte Querdenker die Front zum Rechtsradikalismus schließen. Keine Zeit ist dagegen immun. Das wäre sie wohl erst, wenn eine anarchistische Kultur gegenseitiger Hilfe und Wertschätzung allen Menschen innere Stärke und die Kraft gibt, sich eigenständig ihres Verstandes zu bedienen.

Markus Henning

Quelle: espero Nr. 3, Juli 2021, S. 290-293.