Die Große Fälschung

Die Große Fälschung. 1. Buch: Tuckstett; 2. Buch: Der Flächenbrand; 3. Buch: Flucht nach Venedig; 4. Buch: Entführung in die Sahara. Von P. M. als Rodulf Ritter von Gardau,  Berlin: Hirnkost, 2020, Paperback, 1. Buch 144 Seiten; 2. Buch 137 Seiten; 3. Buch 152 S.; 4. Buch 131 Seiten, 978-3-947380-38-1; 978-3-947380-38-1; 978-3-947380-41-1; 978-3-947380-44-2, pro Band: 14,00€

„Es geht nicht darum, dem Job zu entfliehen, sondern ihn abzuschaffen“ – P.M. als Rodulf Ritter von Gardau, die Tannenbaum-Revolution, und warum Befreiung immer möglich ist

Nur wer ausbricht aus den vorgezeichneten Bahnen von Notwendigkeit und Entsagung, von Leistungsdruck und Erfolgszwang, von Expansion und Fortschritt, nur der kann wieder lernen, was Anfangen heißt. Der sozialen Phantasie wachsen erst dann wirklich Flügel, wenn das Leben nicht länger vom Gefühl der Unausweichlichkeit grundiert wird.

Der Schweizer Autor P.M. (d.i. Hans Widmer; geb. 1947) schreibt schon seit mehr als vier Jahrzehnten genau gegen dieses Gefühl an. Seine Bücher sind libertäre Handreichungen von literarischer Qualität. Sie öffnen den Blick für die in uns selbst liegende Kraft zur Veränderung und deuten unser tagtägliches Leben als Anlass und Aufgabe für das soziale Experiment. So sehr sie überschäumen von Ideen für ein lustvolles Miteinander in selbstbestimmt solidarischen Gemeinschaften, so kunstfertig und souverän halten sie Abstand von realitätsfremdem Sozialkitsch. Mit messerscharfer Analyse, mit Ironie und Skepsis – wohldosiert und punktgenau eingesetzt – drängen sie bei aller Inspiration immer auch dazu, die Produkte unserer Phantasie kritisch auf ihre Tragfähigkeit hin zu überprüfen.

Auch mit seinem neuen Romanprojekt Die große Fälschung zielt P.M. mitten in unser Leben. Die Handlung spielt im Mittelalter, rund um das Jahr 1000. Und doch geht es um nicht weniger als um eine Utopie für das 21. Jahrhundert, um Modelle für eine Welt ohne Klimakatastrophen, ohne Kriege, ohne Herrschaft, ohne Ausbeutung. Eingebettet in eine Persiflage auf die Verschwörungsmythen unserer Tage beginnt ein Tanz von Raum und Zeit.

Das Weltgeschehen wird von einem mächtigen Konzern gesteuert. „Adastra ist der offizielle Firmenname. Zu den kalten Sternen – reine Zukunft, einfach und klar“ (Erstes Buch, S. 144). Sein Geschäftsmodell ist die abendländische Geschichtsdynamik: Patriarchale Kontrolle statt Subsistenz; Lineare Entwicklung statt Kreislauf; Technik statt Natur; Output-Steigerung statt Selbstbegrenzung. Um all das durchzusetzen, werden ganze Heerscharen von Geheimagenten flächendeckend und epochenübergreifend in die Vergangenheit entsandt.

Einer von ihnen ist Rodulf. Im Vorhinein hörte sich alles so schön an: Verantwortungsvolle Außendienstaufgabe als flexibler Kulturmanager und Alltagsingenieur am Ende des Ersten Jahrtausends. Nach Vertragsunterzeichnung der Realitätsschock. Jetzt ist er Ritter von Gardau. Ein kleiner fränkischer Landadliger, wie die anderen seines Standes hierarchisch eingeklemmt zwischen unwilligen Frohnbauern und fürstlichem Lehnsherrn. Nach unten treten, nach oben buckeln. Funktional sein als ohnmächtig getriebene Mittelschichtexistenz, erstickend an Perspektivlosigkeit und Langeweile. Das treibt den jungen Familienvater in Richtung Depression. Er hasst seinen Job. Der Geschäftsauftrag läuft bis zum 55. Lebensjahr, vorzeitige Kündigung ausgeschlossen.

Aus dem Sich-Treiben-Lassen, aus Fluchtphantasien und Tagträumerei wird plötzlich wirkliche Handlungsmacht. Rodulf und seine Ritterfreunde nebst Familien – etliche ebenfalls mit multitemporalem Hintergrund – stolpern in etwas Unerhörtes hinein. In ein Ereignis, mit dem es spätere Geschichtsbücher schwer haben werden: Ein kollektives Ausscheren aus dem Firmenfahrplan, das sich spontan zur sozialen Revolution gegen Hochadel, Großhändler und Kirchenfürsten ausweitet. „Dies ist der endgültige Aufstand, nicht nur eine historische Triebfeder für den nächsten verschissenen Deal. Also diesmal kein Kapitalismus nach dem Feudalismus. Keine Entwicklung, kein Nachholen. […] Ich bin unzufrieden, also muss ich rebellieren. Gilt auch für Bauern, zynische Kleriker und das städtische Frühproletariat. Eine unerwartete, aber durchaus mehrheitsfähige und erfolgversprechende Koalition. Klassenmäßig nicht ganz sauber, aber ausreichend motiviert. Und: Wer sonst sollte es schaffen können?“ (Erstes Buch, S. 61 f.).

Der Tannenbaum wird zum Symbol eines historischen Fensters, das nicht zu nutzen unverzeihlich wäre. Im Prozess der Empörung emanzipieren sich die Beteiligten, entstehen egalitäre Netzwerke, organisiert sich ein antiautoritäres Aufstandsheer. Die Befreiung der Dörfer, die Brandschatzung von Burgen und Klöstern, die Eroberung von Städten und Bistümern führen geschlechter- und milieuübergreifend zu Explosionen von Lebenslust und sozialer Kreativität. Wesentliche Impulse kommen aus der Subkultur der Hexen und weisen Frauen. „Ihre bisherigen Außenseiterpositionen haben es ihnen ermöglicht, den Überblick zu behalten. […] Wo wir durchkommen, schütteln die Frauen die Macht der Pfaffen über ihre Körper ab“ (Zweites Buch, S. 93). Neues Selbstbewusstsein, Intuition und Tatkraft der Frauen geben dem konstruktiven Neuaufbau seine Richtung vor: Es geht um freie Vereinbarung, um Dezentralität, um Vielfalt der Lebensweisen und den neuen Reichtum grenzenloser Begegnungen.

Versorgungsgemeinschaften aufständischer Dörfer mit der jeweils nächsten Stadt schlagen kulturelle Brücken zwischen Landleben und Urbanität. In unterschiedlichsten Facetten erblühen selbstbestimmte Arbeits- und Wohnformen. Musik, Mode und Architektur verändern sich rund um Gemeinschaftseinrichtungen wie Großküchen, Bäder, Tanzhallen und Werkstätten. Bäuerinnen und Ex-Mönche bringen ökologisches Kreislaufwissen in landwirtschaftliche Kooperativen und neue Modelle der Bedarfswirtschaft ein. Subsistenzquellen werden zurückerobert, die Arbeitszeiten reduziert. Die Sorge füreinander tritt in den Mittelpunkt und löst auch für Rodulf die Knoten starrer Identitätszuschreibung.

„Was bin ich nun? Ritter? Bauer? Waldarbeiter? Hausmann? Mann? Zeitgenosse? Oder einfach ein wärme-, nahrungs- und liebesbedürftiges zweibeiniges Wesen beliebigen Geschlechts (biologisch sicher ‚männlich‘, aber sozial immer unbestimmter) ohne Federn? Ich habe Ehre, Gut und Glauben verloren. Gut so! Ich atme tief durch…“ (Erstes Buch, S. 124).

Um aus der Zukunft eine Verheißung zu machen, müssen wir schon heute mit einer tiefgehenden Revolution beginnen. Wir sollten sie aber nicht den Männern überlassen. Sie hatten schon lange genug Zeit, alles zu verpfuschen.

Das Romanprojekt ist auf insgesamt zehn Bände angelegt. Bis zum Redaktionsschluss dieser espero-Ausgabe sind die ersten vier Bände (siehe oben) erschienen. Die gesamte Reihe kann auch beim Hirnkost Verlag abonniert werden (Online).

Markus Henning

Quelle: espero Nr. 3, Juli 2021, S. 294-297.

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