Schwarz, rot, orange: Anarchistische Organisationen in postsowjetischen Belarus

Die Gebiete der heutigen Belarus bildeten im Zarenreich eine Hochburg der anarchistischen Bewegung. Eine der ersten rein anarchistischen Organisationen des Russischen Reiches bildete sich 1903 in Białystok, das damals zum Gouvernement Grodno gehörte. Vor allem unter der jüdischen Bevölkerung fanden verschiedene anarchistische Strömungen Anklang. Nach 1917 waren die Anarchisten wesentlich weniger bemerkbar als in der benachbarten Ukraine. Nach dem Ende des Bürgerkrieges gab es in den belarussischen Gebieten nur vereinzelte anarchistische Aktivitäten.

Mit der „Perestroika“ begann ein neues Kapitel in der Geschichte des belarussischen Anarchismus. 1990 entstand in Gomel die Gruppe „Borba“ („Der Kampf“), die mit der damals größten anarchistischen Organisation in der Sowjetunion, der Konföderation der Anarchosyndikalisten (KAS) zusammenarbeitete. Zu den Erfolgen der „Borba“ gehörte der Streik in der örtlichen Druckerei.

Am 1. August 1992 gründeten acht Delegierte in Minsk, der Hauptstadt der inzwischen unabhängigen Republik, die Föderation der Anarchisten von Belarus (FAB). Das Verhältnis zwischen den eher syndikalistisch ausgerichteten Gomeler Aktivisten und den subkulturell geprägten Minsker Anarchisten war von Beginn an gespannt. Zu den führenden Persönlichkeiten der FAB gehörte Oleg Nowikow alias „Lelik Uschkin“ (geb. 1972). Er war an anarchistischen Aktivitäten in seiner Heimatstadt Soligorsk und im ukrainischen Kiew beteiligt. In der Ukraine erlangten Nowikow und sein Mitstreiter Juri Dokukin Bekanntheit vor allem durch „Todesurteile“ im Namen von ausgedachten Organisationen, die sie an diverse Politiker verschiedener Ausrichtung verschickten1. Nowikow propagierte prinzipiell einen unernsten Umgang mit der Politik im Geiste der polnischen „Pomarańczowa Alternatywa“ („Orangenen Alternative“)2. Auch wenn die FAB eine amorphe Struktur blieb, so legte sie den Grundstein für viele weitere anarchistische Projekte.

1995 gelang den Anarchisten die „feindliche Übernahme“ der linksnationalistischen Jugendorganisation „Čyrwony Rząd“ („Rote Regierung/Macht“, benannt als Erinnerung an die sozialrevolutionäre Fraktion des Januaraufstandes 1863–64). Von nun an trug die Organisation den Namenszusatz „Parteifeindliche Gruppierung“. Zu den bekanntesten Aktivitäten dieser 2000 verbotenen Struktur gehörte die Herausgabe der Satirezeitung „Nowinki“, die seit 1998 erschien und „Čyrwony Rząd“ um drei Jahre überlebte. Nowikow leitete die Redaktion des Organs, das weit über die anarchistischen Kreise Bekanntheit erlangte.

In den 2000er Jahren gewannen zunehmend Themen wie Antifaschismus und Feminismus an Bedeutung. In Belarus entstand eine an den Vorbildern der westlichen Autonomen orientierte Subkultur, während die FAB, inzwischen in der Internationale der Anarchistischen Föderationen (IFA-IAF) organisiert, an Bedeutung verlor. Nowikow wurde 2007 zum Vorsitzenden der Belarussischen Partei „Die Grünen“ gewählt und bekleidete dieses Amt bis Ende 2015.

2005 entstand in Belarus die erste „Food not bombs“-Gruppe. Im August 2009 folgte das „Anarchist Black Cross“ (ABC). Weiterhin bestanden Kontakte nach Russland und in die Ukraine. So wurde 2005 in Belarus eine Gruppe der russischen Organisation „Autonome Aktion“ (AD) gegründet. Doch fünf Jahre später kritisierte die belarussische Gruppe die „linksliberalen Tendenzen“ in der russischen Organisation und löste sich von der AD. Von nun an agiert sie unter den Namen „Revolutionäre Aktion“ (RD) und ist mit der gleichnamigen Organisation in der Ukraine assoziiert. Die RD vertritt Anarcho-Kommunismus als Programm und Militanz als Methode und kritisiert die Friedfertigkeit der aktuellen Proteste.
Seit 2012/2013 lässt sich in Belarus ein neues Phänomen beobachten – die so genannten „Ethno-Anarchisten“, die sich zum „antikolonialen“ belarussischen Nationalismus bekennen. Die Ursprünge dieser Strömung lassen sich bis in die Fußball-Fankultur nachverfolgen. Die bekannteste und zugleich die umstrittenste Organisation aus diesem Spektrum ist die Gruppe „Poschug“ („Pošuh“). Zum selben Spektrum werden „Volny Chaŭrus“ („Freie Genossenschaft“) und die Vereinigung der Ultras des Fußball-Klubs „Partisan“ „Nascha Sprawa“ („Unsere Sache“) gezählt. Die Ethno-Anarchisten teilen die antirussische und die antikommunistische Rhetorik der rechten Opposition.

Als Gegenpol zu den nationalanarchistischen Tendenzen kann die anarchistische Medien-Gruppe „Pramen“ („Lichtstrahl“) gesehen werden. Zusammen mit ABC-Belarus vertritt sie einen betont antinationalen Kurs. Etwas unbestimmter tritt die Medienplattform „Cornaja Ruzha“ („Schwarze Rose“) auf. Die Gruppe ist nicht zuletzt durch die Teilnahme des bekannten Aktivisten Wjatscheslaw Kosinerow (geb. 1988) bekannt. Dennoch nehmen alle Fraktionen des belarussischen Anarchismus an den aktuellen Protesten teil.

„LUKA, GAME OVER!“ — Demonstration von Anarchist*innen in Belarus im August 2020. Quelle: Enough 14

Daneben gibt es in der Belarus zahlreiche unorganisierte – beziehungsweise sich zur ihrer Organisationsmitgliedschaft nicht bekennende – Anarchisten. Die staatlichen Repressionen tragen dazu bei, dass eine offizielle Mitgliedschaft in einer anarchistischen Organisation das Los vor Gericht massiv erschweren kann. Etliche Anarchisten wurden in den letzten Jahren zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt. Zu den bekanntesten von ihnen gehören Nikolai Dedok (geb. 1988), der zwischen 2010 und 2015 im Gefängnis saß und Igor Olenewitsch (geb. 1983), der 2010 aus Moskau nach Belarus entführt und dort verurteilt wurde. Beide schrieben ausführlich über ihre Haftzeit. Olenewitsch, der zusammen mit Dedok amnestiert wurde, befindet sich gerade wieder in Haft. In der Nacht von 28. auf 29. Oktober 2020 wurde er zusammen mit Dmitri Dubrowski, Dmitri Resanowitsch und Sergei Romanow in der Nähe der ukrainischen Grenze von den Sicherheitskräften aufgegriffen. Die vier Männer hatten angeblich Waffen und Sprengstoff dabei – im staatlichen Fernsehen wurden sie inzwischen als eine geständige „Terror- und Sabotagegruppe“ präsentiert.

Ewgeniy Kasakow

Fußnoten

1 Plamennye revoljucionery. Biografii vydajuščichsja dejatelej FRAN: Oleg Novikov // Černaja zvezda. 2(5)/1993. S. 7–20.

2 Zur „Pomarańczowa Alternatywa“ siehe: Die Orange Alternative – Die Revolution der Zwerge. Warszawa, 2008.