Fünf Jahre soll Pawel Krisewitsch in einer Strafkolonie verbringen. Das Gericht des Twerskoi-Bezirks in Moskau hat ihn am 18. Oktober auf Grund von Artikel 213, Punkt 2 des Strafgesetzbuches verurteilt – „Rowdytum, grobe Verletzung der öffentlichen Ordnung, die eine klare Missachtung der Gesellschaft zum Ausdruck bringt, bewaffnet“.
Die Tat, die so qualifiziert wurde, liegt mehr als ein Jahr zurück. Am 11. Juni 2021 ging Krisewitsch zum Moskauer Roten Platz. Dort verlas er ein selbstgeschriebenes Manifest gegen „den Polizeistaat“[1] und gab zwei Schüsse in die Luft ab aus einer mit Platzpatronen geladenen Makarow-Pistole. Nach dem Satz „Bevor der Kreml-Vorhang fällt, werden Schüsse fallen“, schoss Krisewitsch zum dritten Mal – und zielte diesmal auf den eigenen Kopf. Sofort nach dem imitierten Suizid wurde er vom Föderalen Dienst für Bewachung (FSO) festgenommen. Außerdem verhafteten die Sicherheitskräfte die damals neunzehnjährige Journalistin des Netzmagazins „Sota“, Nika (Weronika) Samusik, die die Performance mit ihrer Kamera filmte. Im September 2021 wurde das Verfahren gegen Samusik eingestellt, während Krisewitsch zwei Monate in Untersuchungshaft blieb. Dutzende Kulturschaffende haben sich der Petition für seine Freilassung angeschlossen.
Krisewitsch hat nicht zum ersten Mal durch öffentliche Performances auf sich aufmerksam gemacht. Der im Jahr 2000 in Sankt-Petersburg geborene Aktionskünstler begann sich noch in der Schule für die linke Politik zu interessieren. Mit Sechzehn gründete er eine Gruppe der Jugendorganisation der stalinistischen Vereinigten Kommunistischen Partei (OKP)[2], definierte sich später als Trotzkist und wandte sich noch später den anarchistischen Theorien zu.[3] 2018 gewann er bei der TV-Wissenswettbewerb-Show „Umnizy i umniki“ den ersten Platz. Um den Hauptpreis dürften ihn die Abiturienten landesweit beneidet haben: ein Studienplatz an dem Moskauer Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO), einer der angesehensten Hochschulen Russlands, die zukünftige Diplomaten ausbildet. Doch bereits nach einem Semester exmatrikulierte er sich und meldete sich freiwillig zum Armeegrunddienst. Nach einem Jahr bei der ABC-Abwehrtruppe kehrte Krisewitsch nach Moskau zurück und begann, an der ökonomischen Fakultät der Russländischen Universität der Völkerfreundschaft (RUDN) zu studieren.
Krisewitschs erste öffentliche Aktion fand in Juni 2020 statt. Als Reaktion auf die Repressionen gegen autonome Antifas (so genannter „Netz“-Prozess) kettete er sich an den Zaun des Militärkreisgerichtes in Sankt-Petersburg an.
Am 6. August desselben Jahres schnitt der in Polizeiuniform verkleidete Krisewitsch vor dem Eingang des Gerichtes des Ljubljin-Bezirkes in Moskau symbolisch die Kehle eines Mannequins durch und deklarierte dies als „Opfergabe“ an die Justiz.
Nach der erfolgten Festnahme wieder freigelassen kettete Krisewitsch sich am 19. August mit Handschellen an die Absperrung der Troizki-Brücke in Sankt-Petersburg an. Danach sprang der trainierte Aktivist, der bei der Armee zum Sportausbilder aufstieg, von der Brücke, was aus der Ferne nach einer Erhängung aussah.
Zu den bekanntesten Aktionen Krisewitschs zählt die symbolische Kreuzigung vor dem Gebäude des Inlandsgeheimdienstes FSB in Moskau am 5. November 2020. Krisewitsch ließ sich von Assistenten an ein Holzkreuz fesseln. Um das Kreuz herum wurden Gerichtsakten gestapelt und angezündet. Die Konsequenzen waren 15 Tage administrative Haft und Zwangsexmatrikulation von der RUDN.
Von seiner Tätigkeit ließ sich Krisewitsch dadurch nicht abhalten. Am 24. Januar 2021 rollte er über die beliebte Moskauer Fußgängerzone Arbat in einer riesigen Kugel aus Stacheldraht. Die Aktion trug den Titel „Sphäre der russischen Seele“.[4] Wieder bekam er 14 Tage administrativen Arrest. Drei weitere Personen, darunter die oben erwähnte Veronika Samusik, wurden festgenommen, den Journalisten, die die Aktion filmten, zerschlugen die Sicherheitskräfte die Kameras.
In seinen politischen Aussagen bleibt Krisewitsch meist wage. Alexei Nawalny, gegen dessen Vergiftung er protestierte, nennt er einen „prowestlichen Populisten“[5], während ein „russischer Sonderweg“ „europäische und asiatische Anteile“ verbinden könnte[6]. Für Russland wünscht er sich ein „anarchistisches Experiment“, ohne dessen ökonomisches Wesen weiter zu konkretisieren[7]. Mit der Kritik an den staatlichen Repressionen erntet man in Putins Russland Applaus aus unterschiedlichsten politischen Lagern. Eher „Newsmaker“ als Politiker oder Künstler, der er ist, steht Krisewitsch jetzt vor zwei Zukunftsszenarien: Ein Märtyrerimage zu pflegen oder in Vergessenheit zu geraten.
Ewgeniy Kasakow
Anmerkungen
[1] https://telegra.ph/Manifest-06-12
[2] Die von Wladimir Lakejew angeführte OKP entstand 2014 als Linksabspaltung der Kommunistischen Partei der Russländischen Föderation (KPRF).
[3] https://www.colta.ru/articles/society/25666-pavel-krisevich-monolog-put-k-aktsionizmu
[4] https://www.youtube.com/watch?v=vghHFXOx6vE
[5] https://www.severreal.org/a/30963145.html
[6] Ebd.
[7] https://newprospect.ru/news/new-dk/pavel-krisevich-tsel-u-nas-odna-prekrasnaya-rossiya-budushchego/
Zum Thema empfehlen wir auch die Neuerscheinung des Autors: Spezialoperation und Frieden. Die russische Linke gegen den Krieg von Ewgeniy Kasakow. Münster: UNAST-Verlag, 2022, Paperback, 248 Seiten, ISBN: 978-3-89771-194-5 Seit Beginn der ›Militärischen Spezialoperation‹ der russischen Streitkräfte in der Ukraine nahmen Tausende Menschen in Russland an Antikriegsprotesten teil. Spezialoperation und Frieden versucht, die gesamte Bandbreite der Positionen der russischen Linken zum Krieg, zur russischen Invasionspolitik, dem NATO-Engagement, der humanitären Krise sowie den Themen Flucht und Sanktionen abzubilden. Das Buch enthält Originaldokumente und Interviews, die durch einführende und analysierende Texte des Herausgebers gerahmt werden, die den gesamtgesellschaftlichen Kontext herstellen und die Situation der linken Kräfte in Putins Russland insgesamt fokussieren.