Nachträgliches Verbot?

Anarchistische Organisation „Volksselbstverteidigung“ soll in Russland verboten werden. Dabei gibt es seit Jahren keine Lebenszeichen mehr.

Am 12. September 2022 verkündete das Gericht der Oblast (Region) Tscheljabinsk das Verbot der anarchistischen Organisation „Volksselbstverteidigung“ („Narodnaja Samooborona“).

Die Organisation wird vom Gericht als „terroristisch“ definiert, ihre Aktivitäten auf dem gesamten Gebiet Russlands für illegal erklärt.[1]

Die „Volksselbstverteidigung“ entstand 2013 als Abspaltung der seit 2002 bestehenden Organisation „Autonome Aktion“ („Awtonomnoje Dejstwije“, AD). Zuerst unter dem Namen AD-Sozialrevolutionär agierend, wollte die Gruppe sich vom subkulturellen Habitus abgrenzen und sich an den sozialen Kämpfen orientieren. 2014 solidarisierte sich die AD-SR mit den Maidan-Protesten und nahm an den Demonstrationen gegen russische Einmischung in der Ostukraine teil. Bekannt wurde die Organisation durch militante Kämpfe gegen Verdrängungen der Mieter aus den Wohnungen in den Großstädten.

Laut der Angaben des Tscheljabinsker Gerichtes umfasste die Organisation 400 Mitglieder und ist für über 200 Aktionen verantwortlich. Wie das Innenministerium bereits 2020 verlautbaren ließ, hat die „Volksselbstverteidigung“ allein vom Dezember 2017 bis Dezember 2018 247 „Aktionen mit extremistischem Charakter“ in 47 Städten Russlands durchgeführt.[2]

Der Moskauer Anarchist Dmitri Butschenkow.

Allerdings werden diese Zahlen nicht durch Angaben der Organisation selbst bestätigt. Zudem tritt die „Volksselbstverteidigung“ seit 2018 kaum noch in Erscheinung. Umso häufiger wird der Name im Zusammenhang mit den Repressionen gegen die Anarchisten in Russland erwähnt. Bereits 2015 wurde mit Dmitri Butschenkow ein angeblicher Kopf der Organisation festgenommen. Ihm wurde die Teilnahme an den Unruhen am Bolotnaya-Platz in Moskau bei den Protesten gegen die Wahlmanipulation am 6. Mai 2012 vorgeworfen. Butschenkow blieb in der Untersuchungshaft bis März 2017, danach wurde er unter Hausarrest gestellt. Im November desselben Jahres wurde bekannt, dass Butschenkow ins Ausland geflohen war. 2019 wurde er in Abwesenheit zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt.[3]

Ein anderer häufig als Anführer der „Volksselbstverteidigung“ betitelter Aktivist, Swjatoslaw Retschkalow wurde im April 2018 festgenommen und zwei Tage lang als Zeuge im Zusammenhang mit einem Brandanschlag auf ein Büro der Kremlpartei „Einiges Russland“ verhört. Später berichtete er über die gegen ihn angewandte Folter. Bald darauf verließ er Russland und hält sich bis heute in Frankreich auf, wo er politisches Asyl erhielt.

In den kommenden Jahren wurden immer mehr anarchistische Aktivisten von den Behörden als Mitglieder der „Volksselbstverteidigung“ angeklagt, auch wenn die meisten eine Mitgliedschaft bestritten. Zu den bekanntesten Fällen gehört der Prozess gegen den Moskauer Mathematik-Doktoranden Asat (Azat) Miftachow, der 2019 verhaftet und 2021 zu sechs Jahren Haft verurteilt wurde. Später verkürzte das Gericht seine Haftstrafe unter Berücksichtigung der Untersuchungshaft bis September 2023.[4] Zwei weitere Mitangeklagte – Jelena Gorban und Andrei Jejkin – wurden zu jeweils vier und zwei Jahren verurteilt. Die Angeklagten wurden für den obengenannten Anschlag auf das Parteibüro verurteilt.

Der im Oktober 2021 wegen “Rowdytums mit Androhung von Gewalttaten aus politischer Feindseligkeit” angeklagte Anarchist Rustam Gatamow.

Ein Prozess gegen Rustam Gatamow in der nordrussischen Stadt Wologda endete dagegen 2021 mit einem Freispruch. Auch Gatamow wurde angeklagt, einen Molotow-Cocktail-Anschlag auf ein Büro von „Einiges Russland“ verübt zu haben. Laut Gatamows Auskunft verlangten die Behörden von ihm, die Mitgliedschaft in der „Volksselbstverteidigung“ zu gestehen.[5]

In der Region Tscheljabinsk fand ein Prozess gegen vermeintliche Mitglieder der „Volksselbstverteidigung“ statt: Das Ehepaar Dmitri Zibulski und Anastasia Safronowa wurde angeklagt, 2018 an dem Gebäude des regionalen Zentrums des Inlandgeheimdienstes FSB ein Transparent mit der Aufschrift „Der FSB ist der Hauptterrorist“ aufgehängt zu haben. Die Verurteilung zu jeweils zwei Jahren und sechs Monaten bzw. zwei Jahren wurde zwar 2021 aufgehoben, doch der Fall wird weiterverhandelt.

Das Verbot einer scheinbar bereits zerfallenen Organisation hat nicht nur symbolischen Charakter. Es eröffnet neue Repressionsmöglichkeiten gegen die anarchistischen Aktivisten, die in dem letzten Jahrzehnt in Erscheinung traten.

Ewgeniy Kasakow

Anmerkungen

[1] https://www.interfax.ru/russia/861875

[2] https://republic.ru/posts/105230

[3] https://memohrc.org/ru/defendants/buchenkov-dmitriy-evgenevich

[4] https://zona.media/news/2021/01/11/azat

[5] https://ovd.news/express-news/2021/12/20/sud-v-vologde-osvobodil-anarhista-ot-nakazaniya-po-delu-o-podzhoge-ofisa