Gesammelte Werke. Band 2: Justizkritische Betrachtungen. Von Pierre Ramus. hrsg. von Gerhard Senft, Wien: Verlag Monte Verità, 2020, Paperback, 301 Seiten, 978-3-900434-92-2, 35,00€
„Auge in Auge mit dem Staat“: Anarchistische Justizkritik von Pierre Ramus
Gesetzgebung, Rechtsprechung und Strafvollzug sind Grundpfeiler staatlicher Herrschaftspraxis. Das Machtgefälle autoritärer Über- und Unterordnung ist ihnen konstitutiv eingeschrieben.
Was bedeutet dieses strukturelle Gewaltverhältnis für die Beziehung zwischen juridischem Recht auf der einen Seite, sozialer Gerechtigkeit und Zukunftsfähigkeit unseres Zusammenlebens auf der anderen Seite? Und wie sollen in einer dezentralisierten, egalitär-herrschaftsfreien Gesellschaft Verbrechen geahndet und widerstreitende Interessen ausgeglichen werden? Welche Arrangements sind denkbar, um individuelle Autonomie und soziale Aushandlungsprozesse auch im Konfliktfall verbindlich und für alle Beteiligten „ohne Gesichtsverlust“ miteinander in Einklang zu bringen?
Für Theorie und Praxis der sozial-ökologischen Transformation, also für eine der drängendsten Aufgaben unserer Zeit, sind das grundlegende Fragen. Die Suche nach tragfähigen Antworten kann von der anarchistischen Denktradition wegweisende Impulse empfangen.
Beispielhaft hierfür stehen Leben und Werk von Pierre Ramus (d.i. Rudolf Großmann; 1882-1942). Er gilt bis heute als einer der bedeutendsten Anarchisten Österreichs. Die Grundlagen für sein lebenslanges Engagement gegen die Justizapparate seiner Zeit wurden schon im jugendlichen Alter bei einem mehrjährigen USA-Aufenthalt gelegt. Hier wurde Ramus politisiert, entdeckte die soziale Frage und sein publizistisches Talent. Hier wurde er Bewegungsaktivist, ohne sich dogmatisch auf eine bestimmte Richtung libertären Denkens zu begrenzen. Zu den ihn früh prägenden Einflüssen gehörten individualanarchistische Momente ebenso wie die Bodenreformideen von Henry George (1839-1897) oder der Pazifismus von Ralph Waldo Emerson (1803-1882), Henry David Thoreau (1817-1862) und Lew Nikolajewitsch Tolstoi (1828-1910).
Zurück in Europa entwickelte Ramus sich ab 1902 zum international bestens vernetzten Vordenker und rastlosen Propagandisten von Antimilitarismus, gewaltfreier Revolution, Lebensreform und libertären Erziehungskonzepten. Er arbeitete mit anarchistischen Größen wie Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (1842-1921), Ferdinand Domela Nieuwenhuis (1846-1919) oder Rudolf Rocker (1873-1958) zusammen. Er versuchte, die unterschiedlichen Milieus der alpenländischen Gegenkultur unter der Fahne des Antiautoritarismus zu versammeln, gründete während der revolutionären Umwälzung 1918/19 in Wien den „Bund herrschaftsloser Sozialisten“ und landete wegen seiner politischen Aktivitäten etliche Male selbst vor den Schranken des Gerichts und hinter Kerkermauern.
Im Wiener Verlag Monte Verità ist nun erstmals eine Zusammenstellung Justizkritischer Betrachtungen von Pierre Ramus erschienen. Sie bildet den zweiten Band seiner Gesammelten Werke und umfasst Schriften aus den Jahren 1918 bis 1929.
In ihnen nimmt Ramus uns mit auf eine epochenübergreifende Reise durch die Welt der Staatsverbrechen. Anhand ausgewählter Beispiele – vom Todesurteil gegen Sokrates (399 v.u.Z. in Athen) über die Hinrichtung der „Haymarket-Anarchisten“ (1887 in Chicago), dem Freispruch der Lynchmörder Gustav Landauers (1920 in München) bis hin zum tödlichen Drama um Sacco und Vanzetti (1927 in Charlestown) – öffnet er unseren Blick für Abgründe der Justizbarbarei. Er entschlüsselt die verhängnisvolle Macht der schwarzen Roben und reflektiert die Interessen ihrer Auftraggeber.
Dabei interessiert Ramus sich nicht allein für die ganz großen, spektakulären Exzesse einer blutdürstigen Klassenjustiz gegen Protagonisten des Anarchismus. Gerade auch die vermeintlich unpolitische Alltäglichkeit außerhalb des Rampenlichts, die individuellen Tragödien und zerstörten Leben der „kleinen“ Leute finden seine tätige Aufmerksamkeit – etwa beim Mordprozess gegen die unbescholtene Haushaltshilfe Franziska Pruscha (1924/25 in Wien).
Aus diesem Kontrast gewinnt die Justizkritik von Ramus einen besonderen Reiz. Ihre analytische Schärfe verdankt sich nicht zuletzt der Philosophie Max Stirners (d.i. Johann Caspar Schmidt; 1806-1856). Wie intensiv sich Ramus mit diesem auseinandergesetzt hat, geht ebenfalls aus vorliegendem Sammelband hervor.
Stirner, einer der großen Staats- und Ideologiekritiker des Vormärz, hatte vom Standpunkt eines radikalen Individualismus aus den bürgerlichen Rechtsbegriff dekonstruiert: Innerhalb einer Unterwerfungsordnung begründen sich Rechte letzten Endes immer über die Gnade bzw. Ungnade der jeweils Herrschenden. Wo der Staat Rechte gewährt, existieren stets auch Vorrechte – eine realgeschichtliche Dialektik, die als umfassender Regelungskomplex sämtliche Lebensbereiche usurpiert und aus der Justiz eine organisierte Racheverkörperung macht.
Ramus folgt diesem Gedankengang, gräbt sich durch Kriminalstatistiken und kommt zu dem Schluss: Eine Besserung der Delinquenten ist keineswegs der Zweck der heute üblichen Strafverfolgung. Als bloß unterdrückende Gewalt verewigt sie die Übel, die sie zu bekämpfen vorgibt!
„Bis zu neunzig Prozent aller Verbrechen sind zurückzuführen, indirekt wie direkt, auf das bestehende GELDRAUBSYSTEM, AUF DAS GRUND- UND BODENMONOPOL, AUF DAS BESTEHENDE GEWINN-, PROFIT- UND RACHGIERSYSTEM, das durch die Gesetze des Staates aufrechterhalten und geschützt wird. Im Großen dürfen sie rauben, plündern und morden – nur nicht im Kleinen. […] Wir sprechen dem Staat deswegen das Recht ab, für Verbrechen zu strafen, solange er sie erzeugt. […] Die Aufgabe der Gesellschaft muss es sein, eine Tat des Verbrechens zu verhüten, nicht aber, sie geschehen zu lassen und dann Rache zu nehmen“ (S. 270 f. u. S. 284; Hervorhebungen im Original).
Eine libertäre Um- und Neugestaltung hat also vor allem die staatliche Herrschaft zurück zu drängen. Mit einer grundlegenden Reform der ökonomischen Verhältnisse hat sie an den sozialen Motiven anzusetzen, die zum Verbrechen treiben. Und sie hat Gegenmodelle eines ethischen Umgangs mit Denjenigen zu entwickeln, die ins Straucheln geraten sind.
Ramus benennt zwei wesentliche Bausteine für eine Urteilsfindung, die Recht und Gerechtigkeit nicht als Produkte einer sozialen Hierarchie, sondern als Wesensmomente gegenseitiger menschlicher Beziehungen begreift: 1) Situative Schlichtung durch sachverständige Vermittler statt Verurteilung nach einer konfektionierten Gesetzesordnung; 2) Praktische Wiedergutmachung durch den Schädiger statt Bestrafung und Ausschluss vom sozialen Miteinander.
Verletzungen, Meinungsverschiedenheiten und Zielkonflikte lassen sich nur dann produktiv bearbeiten, wenn innerlich aufgerichtete Menschen sich gleichberechtigt begegnen können. Das ist vor allem eine Sache der Einübung, mit der wir schon heute beginnen müssen.
Ramus erweitert die Solidarität mit den Justizopfern zu einer experimentalsozialistischen Perspektive bürgerrechtlichen Engagements. In ihr müsste es um die Bündelung sämtlicher Kräfte der Gerechtigkeit gegen eine Rechtsordnung gehen, die als organisierte Gewalt der Herrschenden geschaffen wurde. Angesichts der monströsen Justizgräuel unserer Gegenwart – wir denken beispielhaft an den Staatsterror der Straflagersysteme im russischen und im chinesischen Einflussbereich – ist das ein Appell, der aktueller nicht sein könnte.
Zum tieferen Verständnis der Justizkritischen Betrachtungen von Pierre Ramus ist die sozial- und ideengeschichtlich profunde Einleitung ihres Herausgebers Gerhard Senft (geb. 1956) unbedingt zu empfehlen (S. 9-59). Ihre Lektüre kommt einer Einladung gleich: Einer Einladung zum Diskurs und zur Aktion.
Denn die Zukunft ist nicht nur das, was auf uns zukommt, sondern vor allem das, was wir aus ihr machen.
Markus Henning
Quelle: espero Nr. 6, Januar 2023, S. 264-267.