The Routledge Handbook of Anarchy and Anarchist Thought

The Routledge Handbook of Anarchy and Anarchist Thought. Hrsg. von Gary Chartier und Chad Van Schoelandt, New York / Abingdon: Routledge, 2021, Hardcover, 479 Seiten, 978-1-138737-58-7, 152,00£

Tafelspitz ohne Kraftbrühe.
Ein neues Handbuch zum Thema „Anarchismus“

Die Welt wird immer unübersichtlicher, natürlich. Und renditefixierte Großverlage tragen ihren Teil dazu bei. Jahr um Jahr stoßen sie englischsprachige Handbücher über Anarchie und Anarchismus aus. Das frischt die wackligen Finanzen auf; mit Recht spekuliert man auf einen Bedarf bei den ausgehungerten LeserInnen. Eigentlich will man Orientierung geben. Pustekuchen! Mittlerweile braucht man Orientierung über die Orientierung. Nach The Bloomsbury Companion to Anarchism (Ruth Kinna, 2014), dem Brill’s Companion to Anarchism and Philosophy (Nathan J. Jun, 2018), The Palgrave Handbook of Anarchism (Carl Levy / Matthew Adams, 2019) gibt es nun neuen Lesestoff: The Routledge Handbook of Anarchy and Anarchist Thought (Gary Chartier / Chad Van Schoelandt, 2021). Was bisher geschah: Bloomsbury (469 S.) thematisiert Forschungsperspektiven von anarchistischer Theorie und Praxis; Brill (585 S.) widmet sich philosophischen und auch ökonomischen Facetten des Anarchismus; Palgrave (750 S.) macht hauptsächlich praktische Themen und Felder von Anarchie zum Thema. Das alles sind ganz verschiedene Konzeptionen mit jeweiligen Stärken und Schwächen. Was kann man nun von diesem neuen Handbuch erwarten?

Die Einleitung der beiden Herausgeber verortet Anarchismus im Kontext einer Freiheit von Herrschaft. Das bedeute keine Gesetzlosigkeit, aber, im weitesten Sinn, das Fehlen von Gesetzgebern und Staat. Ein nächster Schritt präzisiert dieses Herangehen und schränkt es mehr oder weniger ein: „Anarchism is arguably a radikal strand within the liberal tradition“ (S. 2). Das heißt, Anarchismus wird allein auf die liberale aufklärerische Tradition zurückgeführt und in ihr eingebettet (Locke, Hume, Rousseau, Ferguson, Smith, Godwin). Von dieser Traditionslinie aus soll, so die Einleitung, das 19. Jahrhundert beleuchtet werden. Ausdrücklich erklärt sie, dem vernachlässigten Individualanarchismus dieser Periode das Hauptaugenmerk zuzuwenden (S. 8). Mit dieser Perspektive schlägt das Handbuch auch Brücken in die Gegenwart. Insofern werden die aktuellen anarchistischen Diskurse dezidiert individualanarchistisch verortet; die Seattle-Proteste und die Occupy-Bewegung werden eingeklammert von Ron Paul und der „Ron Paul movement“ (S. 1).

Die Herausgeber – zwei Liberalismusexperten – haben für den anschließenden methodisch-einleitenden Teil Paul McLaughlin gewonnen, der als ausgewiesener Anarchismuskenner gelten kann. Er nähert sich der Frage, was Anarchismus eigentlich sei (S. 15 ff.), schreibt aber das Einleitungsmotiv der Herausgeber auf seine Weise fort. Er unterscheidet und kritisiert zwei gängige Bestimmungsversuche, nämlich „anarchist-ism“ und „anarchy-ism“. Die erstere Art von Anarchismus ist die, die AnarchistInnen vorgeben zu vertreten. Anarchismus in dieser Perspektive sei das, was AnarchistInnen gedanklich proklamieren und in der Praxis und durch die Praxis erstreben. Das sei als Charakteristikum oder Definition keinesfalls erschöpfend, historische und sachliche Gründe sprächen dagegen. Denn erstens habe es Anarchismus schon lange vor denen gegeben, die sich erst seit dem 19. Jahrhundert als AnarchistInnen apostrophierten. Zweitens gebe es beständige Überlappungen von Aktionen von AnarchistInnen mit eigentlich anarchistischen Aktionen derer, die sich gar nicht als anarchistisch verstehen.

Diese erste Form des Verständnisses („anarchist-ism“) wird von McLaughlin konfrontiert mit einer zweiten Linie („anarchy-ism“). Sie ziele, ob nun von bekennenden AnarchistInnen stammend oder nicht, auf erwünschte soziale Zustände, in denen Anarchie, also Freiheit von Herrschaft verwirklicht ist. Das wäre aber nur – wie der Autor sichtlich eigenwillig behauptet – stets auf Einzelziele fokussiert, es gehe um singuläre politische und ökonomische Vorstellungen, gehe nur um reduktive Einzelziele. Und auch insofern wäre Anarchismus keineswegs komplex genug erfasst. Es werden also hier – mehr oder weniger überzeugend – zwei angeblich verfehlte Verständnisse, Konzepte oder Definitionen von Anarchismus in den Raum gestellt, die anarchisten-zentrierte und die anarchismus-zentrierte. Mit Blick auf diese zwei verfehlten Verfahren wird nun vom Autor ein drittes, ein „wirkliches“ und „wahres“ eingeführt. Aber was wäre nun Anarchismus wirklich? Anarchismus bedeute eigentlich nichts Anderes als generelle Skepsis gegenüber Autoritäten und Herrschaft, und zwar eher im Sinn von Zweifel als in dem Sinn von ausgesprochener Opposition (S. 23). Das wäre das Fazit? So viel, so gut? Eine solche unspezifische Ausdehnung scheint denn auch den Autor selbst zu überraschen, und er räumt ein, dass er damit jede Art von Liberalismus als Anarchismus ansehen würde und dass das letztlich wohl doch nicht gerechtfertigt sei (ebd.). Dennoch habe er immerhin gängige oberflächliche Definitionen von Anarchismus hinterfragt, und das sei ein nötiger Schritt für weitere Arbeiten (S. 24).

So weit so ehrenhaft, so weit so naiv. Was sich hier als Suche nach „theoretischer“ Präzision ausgibt, zeugt entweder von einer beflissenen wissenschaftlichen Unbedarftheit oder von einem inszenierten Scheu­klappen­horizont. Denn solche Zuordnungsfragen stellen sich für jede politische, ideologische, künstlerische und andere Bewegung (und diese Fragen stellen sich damit überall permanent). Stets befindet man sich – um das wieder allein an das Thema „Anarchismus“ zurückzubinden – in einem methodischen Dilemma. Die, die sich einst gar nicht als AnarchistInnen apostrophieren konnten oder heutzutage so nicht bezeichnen möchten, wären als anarchistisch oder als anarchoid zu klassifizieren. Anderen hingegen, die sich in der Tat als AnarchistInnen oder anarchistisch bezeichnen, wäre dieses Attribut ggf. abzusprechen. Wie lassen sich hier klare Grenzen ziehen, wie lassen sich eindeutige Unterscheidungen und Zuordnungen treffen? Jedem betreffenden Reinheitsbegehren, jedem Reinheitsgebot ist zu entgegnen: Reinheit gibt es nicht, weder in Theorie noch Praxis. Reinheitsgebote sind grundsätzlich verfehlt.

Immerhin gelang es aber im Rahmen von abgezwungenen Methodendebatten und im Rahmen dieses Einführungsbandes so, den Liberalismus, mehr oder weniger vorbehaltlos, als „wirklichen“ Anarchismus zu exponieren. Und das ist die Grundmelodie des Bandes: Anarchismus ist vornehmlich Individualanarchismus und somit radikalisierter Liberalismus. Liberale Einflüsse und Facetten herauszustellen, ist natürlich nicht grundsätzlich verfehlt. Wenn sich ein Einführungs- und Überblicksband aber darauf beschränkt oder zumindest nur darauf fokussiert, entsteht ein relativ verengtes Bild. Und dieses Bild eines libertären oder liberalistischen Individu­al­anarchismus dominiert den Band fast in jedem der dreißig Beiträge. Sie werden zu einer materialreichen und kompetenten Fundgrube für Interessenten dieser Ausrichtung, sie weisen dadurch aber auch erhebliche Pfadgebundenheiten oder gar Leerstellen auf.

Man kann hier natürlich nicht alle diese Beiträge referieren und in ihren Stärken und Schwächen vorstellen. Hinzuweisen ist etwa auf den zweiten Beitrag des Bandes von Roderick T. Long (S. 28 ff.), der mit Recht darauf aufmerksam macht, dass Gesetzes- und Staatsfeindlichkeit allenfalls hinreichende, aber keineswegs erschöpfende Kriterien für Anarchismus seien, sondern dass auch ökonomische Herrschaft in seinem Fokus steht. Diesbezüglich schildert er die Positionen eines „left-wing-market-anarchism“, der sowohl mit den Positionen eines „anarcho-capitalism“ als auch mit denen eines gemeinschaftsorientierten „social-anarchism“ bestimmte Gemeinsamkeiten aufweise und zwischen beiden vermittle. Auch hier ist unübersehbar, wie bestimmte liberale Tendenzen in diesem Handbuch in den Vordergrund gerückt werden. Um dieses konzeptuelle Herangehen an einem weiteren Beispiel zu demonstrieren: Der Beitrag Christian Anarchism (Sam Underwood / Kevin Vallier, S. 187 ff.) widmet sich bekannten und gut erforschten Klassikern: den urreligiösen, pazifistischen und kapitalismuskritischen Konzepten Lew Tolstois und dem gewaltfreien antikapitalistischen zivilgesellschaftlichen Ungehorsams-Anarchismus Jacques Elluls. Konterkariert wird das aber anschließend mit Vertretern eines sich christlich legitimierenden Markt-Anarchismus. Prüft man genauer, welche wissenschaftlichen Vertreter dahingehend angeführt werden, sind es mitnichten akademische Autoritäten, sondern Publizisten aus dem Spektrum des nordamerikanischen christlichen Fundamentalismus mit eher durchwachsener Reputation, und solche, die sich keinesfalls auf das verschmähte Konzept Anarchismus berufen.
Nochmals: Von einem einführenden Handbuch sollten die Leserinnen und Leser keine gewollte Engführung erwarten. Rudolf Rocker (und vor ihm wohl schon andere) haben mit Recht zwei Hauptwurzeln des im 19. Jahrhundert als eigenständige Strömung entstehenden Anarchismus herausgestellt: Liberalismus und Sozialismus. Beide Strömungen waren und sind noch heute grundsätzlich wichtig, die eine kann nicht gegen die andere ausgespielt werden. Eine Reduktion auf die eine Facette Sozialismus/Kommunismus wäre ebenso engführend, wie die auf die andere Facette Liberalismus. Dieser Band widmet sich programmatisch fast nur der zweiten und geht über die andere meist nonchalant hinweg. Ist das schon ein Etikettenschwindel? Auf alle Fälle ist es so, als ob man in einem Lokal Tafelspitz bestellt, dieser aber ohne die obligatorische Kraftbrühe serviert wird. Die Einen werden gerade deshalb begeistert zuschlagen, die Anderen werden sich gerade deshalb geneppt fühlen und sich ärgern. Und wieder Andere werden schauen, ob sie sich zumindest hier und da etwas herauspicken können.

Olaf Briese

Quelle: espero Nr. 4, Januar 2022, S. 302ff