Von Élisée Reclus, herausgegeben von Andreas Gerlach und Stephan Zandt, übersetzt von Rainer G. Schmidt, Berlin: Matthes & Seitz, 2024 (= Fröhliche Wissenschaft; 228), ISBN 978-3-7518-3000-3, 174 Seiten, 15,00 €.
Führt der moderne Staat zur Anarchie?
Als ich bei Matthes & Seitz eine Ankündigung für ein Buch des Geografen und Anarchisten Élisée Reclus (1830-1905) sah, dachte ich, was hat dieser Verlag mit Anarchismus zu tun? Aber dann fiel mir ein, dass in der espero, Nr. 8, schon einmal ein Buch aus dem Verlag Matthes & Seitz besprochen wurde (Rüdiger Haude: Als Adam grub und Eva spann. Herrschaftsfeindschaft in der Hebräischen Bibel). Das lässt auf mehr hoffen.
Das Buch ist eine Zusammenstellung und Übersetzung von drei Aufsätzen: Der moderne Staat, Fortschritt und Die Anarchie. Die ersten beiden Texte erschienen als Kapitel VII (L‘Etat Moderne) und XII (Progrès) 1908 im sechsten und letzten Band des Werkes L’Homme et la Terre von Élisée Reclus, das, vierbändig konzipiert, erst nach seinem Tod in sechs Bänden erschien. Auf Deutsch ist es nicht erhältlich. Der dritte Aufsatz, Die Anarchie, basiert auf einem Vortrag, den Reclus 1894 in einer Brüsseler Freimaurerloge hielt und der 1895 in der Zeitschrift Les Temps Nouveaux (1. Jahrgang, Nr. 3, 4 und 5) erschien und 1896 als separate Publikation dieser Zeitschrift (Publication des „Temps Nouveaux“, N° 2).1
Reclus ist in Deutschland in der anarchistischen Szene durchaus vom Namen her bekannt, allerdings weniger durch seine Schriften, da es kaum Bücher von ihm auf Deutsch gibt. Umso begrüßenswerter ist die Publikation von Matthes & Seitz. Reclus war ebenso wie Peter Kropotkin (1842-1921) Geograf und mit ihm im Austausch. Aber er hat weit mehr in seinem Fachgebiet publiziert als Kropotkin, unter anderem ein 20-bändiges Werk von 1876 bis 1894 mit dem Titel Nouvelle Géographie universelle, das ihn in Frankreich bis heute sehr bekannt macht.
Teil 1 – Der moderne Staat
Reclus zeichnet in diesem Abschnitt ein zeitgenössisches Bild des Staates, das man auf heutige Verhältnisse nicht mehr übertragen kann, obwohl man hin und wieder Parallelen entdeckt. Er selbst zieht Vergleiche seiner Zeit, also um 1900, mit früheren Zeiten und anderen Kulturen. Für ihn besteht der Staat aus den Herrschenden oder Mächtigen und dem Volk, das sich Unterdrückung meist gefallen lässt oder gefallen lassen muss und dadurch den Staat stützt. Er schreibt:
„Das Volk [ist] im Grunde bewahrend, und das Spiel der Revolutionen gefällt ihm nicht lange: Es zieht ihm die Evolution vor, weil es dieser nicht misstraut.“ (S. 49)
Institutionen vertraut Reclus generell nicht. Er schreibt:
„Sobald eine Institution gegründet wird, selbst nur um himmelschreienden Missbrauch zu bekämpfen, schafft sie durch ihre Existenz neuen Missbrauch.“ (S. 49)
Ein vielleicht etwas zu pauschales Urteil. Auch im Wahlrecht sieht er nicht viel Gutes, zumindest in Bezug auf Gesetze, die nach der Wahl gemacht werden. Er meint, dass diese nicht die Meinung der Wähler ausdrücken, außer in der Schweiz, wo noch einmal darüber abgestimmt wird, ob ein Gesetz angenommen oder abgelehnt wird. Und die für Jahre Gewählten würden schnell ihre Macht missbrauchen, da sie nicht belangt werden können (S. 53), was heute natürlich so nicht mehr zutrifft.
Die Herrschenden sind für ihn die Kirche, vor allem die katholische, die Richter und das Militär, aber auch Ärzte, Beamte, das Ingenieurswesen und einige andere Berufsstände spielen nach Reclus eine herrschende Rolle. Einiges ist aus heutiger Sicht nicht mehr nachvollziehbar, denn Ingenieure würde man nicht mehr als Unterdrücker ansehen und auch Ärzte nicht. Bei Beamten würden viele heute zustimmen, dass die Administration ein unsäglicher Hemmschuh ist. Aus heutiger Sicht wird man die Kirche und die Richter sicherlich auch nicht mehr pauschal in dieser Funktion sehen und auch das Militär ist kein Staat im Staate, zumindest nicht in Europa.
Interessanterweise sieht Reclus den deutsch-französischen Krieg von 1870/71 als eine Folge der beiden napoleonischen Kaiserreiche, die jeweils eine Republik stürzten. Er meint, dass Krieg ein häufig verwendetes Mittel ist, nationale Energien in Wut gegen das Ausland zu verwandeln. Vorwände dafür findet man leicht und oft führt das zu Kriegen. Er schreibt:
„Von England über Deutschland bis nach Frankreich und Italien gibt es viele Arbeiter, die sich gegenseitig verabscheuen, was sie [aber] nicht daran hindert, durch ihren gemeinsamen Kampf gegen das unterdrückende Kapital einander zu helfen.“ (S. 77)
Reclus sieht immer mehr Menschen gegen diesen Staat aufbegehren und Frauen gegen ihre Unterdrückung kämpfen. Auch hier sieht es aus heutiger Sicht so aus, dass nicht davon gesprochen werden kann, dass immer mehr Menschen gegen den Staat als Staat aufbegehren. Lediglich der Kampf der Frauen für ihre Emanzipation ist seit 1967/68 ein kontinuierlicher Faktor im Kampf gegen Ungleichheit und Unterdrückung.
In seinem Aufsatz bezieht sich Reclus sehr oft auf die Verhältnisse in Frankreich und seine Geschichte. Das macht diesen Teil für Leserinnen und Leser, die nicht mit dieser vertraut sind, etwas schwierig zu verstehen. Ein paar zusätzliche erläuternde Fußnoten wären hilfreich gewesen. Der Text scheint sich ohnehin, auch von der Sprache her, an allgemeingebildete Menschen zu wenden. Das ist insofern nachzuvollziehen, da er aus dem genannten sechsbändigen Werk stammt2, das nicht als „Propaganda“ für seine Ideen gedacht war. Eine Erwähnung diesbezüglich wäre gut gewesen.
Der Text ist eher historisch interessant, geschrieben in und für Frankreich Ende des 19. Jahrhunderts. Er passt nicht gut auf heutige Verhältnisse und die Handlungsvorschläge sind nicht zielführend. Der Staat, so schreibt er, sei eine Krebsgeschwulst, die sich unaufhörlich auf den gesunden Teil des Volkes ausdehnt und nur durch die Wirkung einer entschiedenen Revolution verschwinden kann: „Man reformiert nicht das Böse, man schafft es ab“ (S. 74).
Markige Worte, aber wenn ich das auf das heutige Deutschland anwende, bleibe ich ratlos zurück.
Teil 2 – Fortschritt
Dieser Abschnitt ist das letzte Kapitel aus Reclus‘ anspruchsvollem Werk L’Homme et la Terre. Entsprechend ist es geschrieben. Einerseits als finales und emotionales Kapitel der vier bzw. sechs Bände und andererseits, wie der vorherige Abschnitt, nicht für das einfache Publikum. Er ist nicht ganz einfach zu lesen, wenn man es nicht gewohnt ist, sich auch mit theoretischen Fragen zu beschäftigen. Reclus fängt damit an, zu erörtern, wie man eigentlich Fortschritt definiert, in einem engeren oder einem weiteren Sinne. Ist ein Fortschreiten immer die Verbesserung der Menschheit, oder muss man sich überlegen, was wäre, wenn eine neue Eiszeit käme und es danach wieder in eine ganz andere Richtung ginge, zum Beispiel große Trockenheit. Da bricht bei ihm der Geograf durch und ich fand den Gedankengang etwas zu weit ausgeholt.
Er warnt davor, Fortschritt mit Zivilisation zu verwechseln, und beschreibt ausführlich die „Wilden“ und „Primitiven“ (Begriffe, die er bewusst in Anführungszeichen setzt). Diese Gesellschaften, so betont er, könnten in mancher Hinsicht einen größeren Fortschritt erreicht haben als unsere, wenn man den Begriff Fortschritt unabhängig von unserem Verständnis von Zivilisation betrachtet. Als ein Beispiel nennt er interessanterweise Togo und Kamerun und fragt sich, ob diese Länder, seitdem dort die germanische Fahne aufgepflanzt wurde, einen Fortschritt haben? Man müsste Fortschritt aus einer gewissen Distanz betrachten, um ihn einschätzen zu können. Reclus bezieht sich mit seiner Definition von Fortschritt auf verschiedene Autoren, die bei Fachleuten vielleicht bekannt sind, mir aber unbekannt waren. Er meint, dass auch bedacht werden müsse, dass es darauf ankomme, welchen Eindruck bestimmte Veränderungen auf bestimmte Menschen machten, damit sie von Fortschritt sprachen.
Reclus, der Vegetarier war und sich intensiv mit Natur und Naturzerstörung auseinandersetzte, diskutiert auch die Bewegung „Zurück zur Natur“, wie sie zum Beispiel Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) vertrat, aber inzwischen aus seiner Sicht ernsthafter betrieben wird. Und immer wieder kommt er auf indigene Gruppen zurück und deren gegenseitige Hilfe. Er schreibt:
„Man kann so etliche Fälle feststellen, bei denen die moralische Überlegenheit, ebenso wie eine fröhlichere Einschätzung des Lebens, in Gesellschaften zusammen anzutreffen sind, die als wild oder barbarisch gelten.“ (S. 105)
Reclus bezieht sich auch ausführlich auf Arthur Russel Wallace (1823-1913), der parallel zu Charles Darwin (1808-1882) die Evolutionstheorie entwickelte und sich viele Jahre im Malayischen Archipel aufhielt und dort auch indigene Gruppen untersuchte und beschrieb. Aber auch Reclus ist klar, dass man bei den Indigenen ebenfalls viele Gegenbeispiele findet, oft gar nicht weit weg von den positiven Beispielen. So zum Beispiel auf Borneo, wo Wallace viele Beispiele „edler Moral“ zusammengetragen hat, es aber auch Kannibalen gibt. Und Reclus weiß auch, dass man nicht Äpfel mit Birnen vergleichen kann. Er schreibt:
„In jenen Gesellschaften, in denen alle Mitglieder einander kennen, da sie zu der gleichen Familie gehören, war das Ziel, das es zu erreichen galt, sozusagen zur Hand. So ist es auf andere Weise für unsere moderne Gesellschaft: Sie umfasst eine Welt, aber hat sie noch nicht fest im Griff. . . . Die ersten Verbindungen sind zunächst mikroskopisch klein, dann dehnen sie sich immer weiter aus und ihre Komplexität nimmt allmählich zu, im Verhältnis mit dem Ideal, das sich erhöht und immer schwieriger zu erringen ist.“ (S. 110 f.)
Reclus zieht auch Parallelen zur Tier- und Pflanzenwelt, wie Kropotkin es tat, dessen Buch über die Gegenseitige Hilfe ein paar Jahre vorher erschienen war, und das Reclus, der mit ihm in Austausch stand, natürlich kannte:
„Hat der Mensch, in seinen Augen noch unvollkommen, nicht unzählige Lebewesen um sich, die er rückhaltlos bewundern kann, wenn er die Augen und den Geist geöffnet hat?“ (S. 113)
Aber auch da ließen sich, das schreibt Reclus nicht, ebenso viele oder mehr Beispiele aus der Natur anführen, die man als menschliche Gesellschaft bewundern kann, aber nicht nachahmen sollte.
Reclus erörtert auch die Vor- und Nachteile einer komplexen Gesellschaft und kommt immer wieder auf die Völkerverbindung in Europa zurück. Es hat mich auch in diesem Abschnitt überrascht, dass erneut der deutsch-französische Krieg von 1870/71 von Reclus so eingeschätzt wird, dass trotzdem die übergreifende Zusammenarbeit produktiv fortschreitet:
„Seit dem letzten großen europäischen Krieg zwischen Frankreich und Deutschland gingen Hunderttausende von Menschen zugrunde, die Ernten wurden verwüstet und die Reichtümer zerstört; man verfluchte und verwünschte einander, was aber nicht verhinderte, dass sich die Arbeit des Denkens zum Nutzen aller Menschen auf zwei Seiten fortsetzte, die wechselseitigen Gegner miteingeschlossen. Man stritt sich auf patriotische Weise … rivalisierende Feinde zwar, doch im Grunde sehr innige Freunde, da sie mit Hartnäckigkeit an dem gemeinsamen Werk arbeiteten.“ (S. 116)
Das klingt 1908 schon nach deutsch-französischer Freundschaft. Übrigens sah Kropotkin das wesentlich kritischer und wurde nicht zu einem Freund Deutschlands.
Reclus gesteht zu, dass es auch immer wieder Rückschritte gäbe, aber er glaubt, dass letztlich der Fortschritt, so wie er ihn umrissen hat, nicht aufzuhalten sei:
„In Wirklichkeit bilden alle Nationen, jene einbegriffen, die sich Feinde nennen, trotz ihrer Anführer und trotz der Fortdauer von Hass, eine einzige Nation, deren sämtliche regionalen Fortschritte auf die Gesamtheit reagieren und einen allgemeinen Fortschritt bilden.“ (S. 118)
Als der Text erschien, lag der deutsch-französische Krieg, für den Reclus beide Seiten verantwortlich machte, mehr als dreißig Jahre zurück und an den 1. Weltkrieg war noch nicht zu denken. Es war eine Zeit des enormen wissenschaftlichen Fortschritts, von dem auch Reclus getragen zu sein scheint. Man kann von Glück sagen, dass er den 1. Weltkrieg nicht mehr, wie Kropotkin, miterleben musste. Sein Weltbild wäre vermutlich zusammengebrochen.
Reclus spricht immer wieder in Anspielung auf Kropotkins Buch von der Eroberung des Brotes, wie es der wahre Fortschritt fordere. Aber er sieht auch, dass der Mensch, wenn er die eine oder andere Freiheit bekommt, diese oft als eine Gefahr empfindet, weil er aus seinem sicheren Trott herausgerissen wird, der ihn zwar einschränkt, aber klare Regeln vorgibt, die eingehalten werden können.
Insgesamt endet Reclus mit einem sehr positiven, vielleicht zu positiven Bild, was den Fortschritt angeht. Aber, wie gesagt, es ist das Schlusskapitel seines letzten großen Werkes und das möchte er vermutlich nicht mit zu viel Skepsis beenden. Dieser zweite Abschnitt ist anspruchsvoll, aber er hat mir besser gefallen als der erste, denn er brachte mich mehr zum Nachdenken.
Teil 3 – Die Anarchie
Élisée Reclus (1830-1907) Ich hatte diesen Aufsatz, in der originalen Version auf Französisch (L’Anarchie), vor 18 Jahren in einer ehemaligen Abteikirche nördlich von Bordeaux entdeckt, gekauft und im Urlaub gelesen. Nun also auch auf Deutsch. Dieser Text, von dem die Herausgeber vermutlich meinten, er würde zu den beiden anderen als Abschluss passen, passt in meinen Augen nicht. Es ist ein Vortrag, der dann auch als Vortragstext niedergeschrieben wurde und ein rein propagandistisches Werk ist, was ich nicht im negativen Sinne meine. Er ist einfach geschrieben, aber auch etwas platt. Die Anarchie und der neue, gute Mensch werden in schillernden Farben beschrieben, vor einem Auditorium (Freimaurer), das in seiner Mehrheit oder komplett nicht aus Anarchisten bestand:
„Der Tag wird kommen, und ich zweifle nicht daran, an dem er [der individuelle Arbeiter] in aller Ruhe Besitz von allen Erzeugnissen gemeinsamer Arbeit ergreifen wird, von Gruben und Domänen, Fabriken und Schlössern, Eisenbahnen, Schiffen und Schiffsladungen.“ (S. 161)
Einen aufkommenden Zweifel wischt er aus:
„Ein Zweifel könnte jedoch in den Geistern fortdauern, wenn die Anarchie nie mehr als ein Ideal gewesen war, eine geistige Übung.“ (S. 162)
Er meint aber, dass es libertäre Organismen zu jeder Zeit gegeben hätte, wenn es auch nur individuelle Initiativen waren oder verschiedene indigene Gruppen. Und er nennt in diesem Zusammenhang die alten Griechen, die für ihn Republikaner sind, obwohl ihm natürlich klar sein wird, dass es in dieser Gesellschaft Sklaven gab, die Rolle der Frau nicht sehr emanzipiert war und nicht einmal jeder ein Bürger der Polis war.
Mich überrascht an Reclus, dass er an die Revolution glaubt, obwohl er so viel von übergreifender Verständigung spricht, was eher nach Evolution klingt:
„Zweifelsohne wird die Bewegung der Umwandlung Gewalttätigkeiten und Revolutionen mit sich bringen, aber ist nicht bereits die umgebende Welt nichts anderes als die fortgesetzte Gewalttätigkeit und andauernde Revolution?“ (S. 172)
Angesichts der Tatsache, dass es kaum etwas von Reclus auf Deutsch gibt, ist es durchaus von Interesse, diese Texte zu lesen, um den in Frankreich bis heute bekannten Denker kennenzulernen. Eine überzeugende Zusammenstellung von drei Texten ist dieses Buch für mich nicht.
Nachbemerkung
Noch ein paar Worte zur Einleitung. Im Großen und Ganzen wird gut in das Leben und Werk von Reclus eingeführt. Geärgert hat mich, was heute üblich zu sein scheint, dass die Sprache der damaligen Zeit kritisiert und verändert wird. Reclus hat zum Beispiel, wie auch Kropotkin und viele andere, von nègre gesprochen. Die Herausgeber schreiben, dass sie dieses „N-Wort“ ersetzen, was in meinen Augen in Ordnung ist, aber nicht hätte erwähnt werden müssen, denn das ist die Freiheit einer Übersetzung. Ebenso kritisieren sie den Begriff l’homme, von dem sie meinen, dass er „Mann“ bedeutet. Er bedeutet aber im Französischen auch einfach Mensch. Und bei den Eskimos, die sie im Text durch Inuit ersetzen wollten, liegen sie daneben, denn inzwischen ist der Begriff Eskimo rehabilitiert und wird sogar von den Eskimos als ein übergeordneter Begriff verwandt. Als Inuit bezeichnen sich nur die Eskimos in Kanada und auf Grönland. Und ironischerweise vergessen die Übersetzer dann auch noch ihr eigenes Anliegen, denn auf Seite 134 steht Eskimos und nur auf Seite 140 Inuit. Ich bin der Meinung, dass historische Texte so abgedruckt (und übersetzt) werden sollten, wie sie geschrieben wurden. Da das Buch Fußnoten enthält, kann man dort Anmerkungen machen, ohne direkt in den Text einzugreifen. Und wenn die Herausgeber meinen, „Reclus sagte das Richtige in den falschen Worten“ (S. 13), dann finde ich das ziemlich arrogant.
An einigen Stellen finde ich die Übersetzung des Textes nicht sehr elegant. Ein Beispiel:
„Diejenigen, die Gerechtigkeit suchen, hätten keine Chance, sie eines Tages mitzuführen, kein Hoffnungsstrahl, der sie in ihrem Elend trösten könnte, wenn das Bündnis aller feindlichen Klassen sich ohne Fahnenflucht aufrechterhielte, wenn es sich als fest erwiese wie die lebende Mauer eines Infanterie-Karrees.“ (S. 78 f.)
Ich hätte es wie folgt übersetzt:
„Diejenigen, die Gerechtigkeit suchen, haben keine Chance, sie eines Tages zu bekommen, keinen Hoffnungsschimmer, der sie in ihrer Not trösten könnte, wenn das Bündnis aller feindlichen Klassen ohne Überläufer bestehen bliebe, wenn es fest wie die Mauer einer Infanterieformation stehen würde.“3
Aber ich finde, dass insgesamt die Übersetzung gelungen ist.
Stephan Krall
Anmerkungen
1 In dem Buch ist bei der Angabe der Originaltextstellen auf der letzten Seite ein kleiner Fehler unterlaufen, indem die ersten beiden Aufsätze dem Jahr 1896 zugeordnet werden und der dritte dem Jahr 1908. Es ist genau umgekehrt.
2 Die Titel der geplanten vier Bände, die dann auf sechs verteilt wurden, waren: 1) Die Vorfahren, 2) Frühe Geschichte, 3) Moderne Geschichte, 4) Zeitgenössische Geschichte.
3 Im Original steht: „ Ceux qui recherchent la justice n’auraient aucune chance de pouvoir l’emporter un Jour, aucun rayon d’espoir qui pût les réconforter dans leur misère si la ligue de toutes les classes ennemies se maintenait sans défections, si elle se présentait solide comme le mur vivant d’un carré d’infanterie.“
Quelle: espero Nr. 9/10, Dezember 2024, S. 512-520.