Warten. Eine verlernte Kunst. Von Timo Reuter, Frankfurt am Main: Westend Verlag, 2019, Paperback, 239 Seiten, 978-3-86489-269-1, 18,00€
Vom sanften Sprengstoff der Geduld: Wie das Warten utopische Kräfte freisetzen kann
Im Fetisch von Arbeit, Konsum und Optimierung eröffnen sich neue Möglichkeitsräume mitunter erst durch Zwangspausen. Sie sind Sandkörner im Getriebe der Verwertungsmaschinerie. Sie reißen Lücken in den Absolutismus der Beschleunigung. Im besten Fall werfen sie uns aus dem Hamsterrad, zwingen uns zum Innehalten, verurteilen uns zum Warten. Worauf eigentlich? Nur aufs Weitermachen wie zuvor? Oder ist da noch mehr? Etwas, was über das Alte hinauszielt, auf eine bessere Zukunft verweist? Etwas, was im Hier und Jetzt visionär beflügelt? Im Spanischen wie im Portugiesischen steht „esperar“ gleichermaßen für „warten“ und für „hoffen“.
Dieser Gleichklang hat Timo Reuter (geb. 1984) zu einer Kulturgeschichte des Wartens inspiriert. Ihr Titel: Warten. Eine verlernte Kunst. Sie ist 2019 im Frankfurter Westend Verlag erschienen. Der Corona-Lockdown hat sie zum Buch der Stunde gemacht.
Timo Reuter entschlüsselt die Unfähigkeit zu warten und die Utopielosigkeit unserer Gesellschaft als zwei Seiten desselben Epochenproblems. „Während alles immer schneller läuft und fährt und fliegt und wir damit eigentlich Zeit einsparen müssten, während sich die durchschnittliche Lebenserwartung in den letzten 150 Jahren mehr als verdoppelt und die Arbeitszeit seither halbiert hat, rennt uns die Zeit doch immer mehr davon“ (S. 44). Angetrieben von der kapitalistischen Ökonomisierung ist der Tempo¬rausch längst zum Selbstläufer geworden. Anpassungsdruck, permanente Erreichbarkeit, Ungeduld und Hektik lassen die Gegenwart schrumpfen. Digitale Informationsfluten ertränken den emotionalen Weltbezug. Je schaler Dinge und Beziehungen durch ständige Verfügbarkeit werden, desto eiliger hetzen wir weiter, ohne jemals wirklich anzukommen. Das Gefühl rasenden Stillstands mischt sich mit Angst vor den Folgekosten des Zurückbleibens. Abrutschende Abhänge sind keine gute Basis für kollektive Zukunftsträume.
Festen Boden können wir nur gewinnen, wenn wir uns neu verbinden. Wenn wir aus dem Ereignisstrom einen Schritt zurücktreten und andere Zugänge finden zu uns selbst, zu Anderen und zur Welt. Wenn wir die Nischen im veruhrzeitlichten Leben als Freiräume erobern und zu Oasen der Ruhe machen. Anstatt sich distanzlos dem Regiment fremder Zeitpläne zu fügen, gilt es wiederzuentdecken, dass Stillstand, Unterbrechung und Wartezeiten kein Verlust sind, sondern ein subversives Geschenk. Einladungen zur kontemplativen Muße, zur Hingabe an den Augenblick und zur Langsamkeit der Betrachtung, die das Schöne erst frei werden lässt. Im geduldigen Verweilen scheinen Bilder des guten Lebens auf. Sie füllen die Lücken des Wartens mit zukunftsfroher Hoffnung und zurück gewonnener Handlungsmacht.
Hierzu hat Timo Reuter Weisheitsschätze zusammengetragen, die seine Untersuchung auch für den Anarchismus interessant machen.
Erstaunlich, wie eingehend die utopische Kraft des Wartens in der libertären Denktradition zum Thema gemacht wurde, z.B. von Henry David Thoreau (1817-1862), Lew Nikolajewitsch Tolstoi (1828-1910), Oscar Wilde (1854-1900), Mohandas Karamchand Gandhi (1869-1948), Lewis Mumford (1895-1990) oder Albert Camus (1913-1960).
Frappierend aber auch die Angst der Autoritären: Für den Marxismus-Leninismus sind Müßiggang und Herumlungern eine Sünde. In der UdSSR wurden Ansammlungen wartender Menschen 1939 kurzerhand unter Strafe gestellt. Der Befehl kam direkt von Josef Stalin (1878-1953). Die Versorgungsengpässe freilich blieben bestehen und machten die Warteschlangen weiterhin zu einem „potentiell gefährlichen Kommunikationsraum“ (zit. nach S. 147).
Kollektives Warten lässt temporäre Schicksalsgemeinschaften entstehen. Embryonale Sozialsysteme mit einer Tendenz zu Solidarität und gegenseitiger Hilfe. Das belegt die sozialwissenschaftliche Forschung und das war auch in der Corona-Pandemie zu beobachten.
„Bleiben wir also neugierig und suchen nach Resonanzmomenten, nach Beziehungen, in denen wir uns authentisch fühlen und Anerkennung erfahren, nach Menschen, mit denen wir auf derselben Wellenlänge schwingen, nach Tätigkeiten, die uns begeistern und Freude bereiten“ (S. 171).
Einübung der Utopie bedeutet für Timo Reuter: Miteinander aufeinander zu warten. Nur aus Geduld, Güte und Sanftmut kann zwischenmenschliche Nähe erwachsen. Das ist das Fundament von Freundschaft, Liebe und Anarchie.
Markus Henning
Quelle: espero Nr. 2, Januar 2021, Seite 229ff.