El Entusiasmo. Ein Dokumentarfilm. Regie: Luis E. Herrero, Spanien 2018, HD/FSK12, Spanisch/Katalanisch mit deutschen Untertiteln, 80 min.
Eine Filmkritik
Das Bild eines Shakespeare‘schen Dramas in der Realität: Der faschistische Staatsführer von Spanien – General Franco – liegt 1975 wochenlang im Sterben. Die Menschen sind in immer angespannterer Erwartung! In dieser Lage wird Francos Tod mit medizinischen und propagandistischen Mitteln hinausgezögert und verheimlicht, bis er endlich am 20. November 1975 verkündet werden muss. Im Hintergrund haben die Offiziellen inzwischen Zeit gewonnen, Absprachen mit etwaigen neuen politischen Kräften zu treffen und ihren Einfluss für die Zukunft zu sichern.
Nach über 35 Jahren Diktatur schien für das Land nun alles möglich zu sein. Der kurze Sommer der Anarchie, der 1936 begann und der 1939 gewaltsam durch den Sieg der Faschisten abgebrochen wurde, war wieder spürbar und bot die Chance seiner Fortsetzung. Welche Optionen waren möglich? Bewaffneter Kampf und Revolution oder der Übergang zur bürgerlichen Demokratie nach europäischem Muster oder vielleicht etwas ganz anderes?
Der Diktator war zwar tot, aber sein System lebte weiter. Wie sollte die anstehende Transición vonstattengehen? In Übergangsphasen, nach Kriegen und Systemwechseln, entfaltet sich gerne Anarchie, mit Möglichkeiten, Utopien real zu leben. Und gerade Spanien machte jetzt explosiv nachholende Veränderungen durch. In kürzester Zeit wurden kulturelle und politische Entwicklungen vollzogen, die seit 1968 woanders schon stattgefunden hatten. Aber: War nicht noch mehr möglich? Gerade die Jugend nahm ihre Chancen wahr und orientierte sich in Richtung Antiautoritarismus, freie Liebe, Frauenbefreiung usw. Der soziale und politische Fokus verschob sich auf neue Kulturen des Zusammenlebens und der Kommunikation, von der auch Kunst und Filmemacherei erfasst wurden.
Die anarchosyndikalistische CNT – als größte Organisation der Arbeiterbewegung Spaniens bis Ende des Bürgerkriegs – erwachte wieder zu enormer Stärke, die hunderttausende Menschen erfasste und Massen zu Demonstrationen, Streiks, Festen und Direkten Aktionen bewegte. Die Menschen fühlten, endlich wieder Akteure ihres eigenen Schicksals zu sein. Dies konnte alten und zukünftigen Machtzirkeln nicht gefallen, und dieses bedrohliche Phänomen musste beizeiten gestoppt werden. Durch ein quasi konzertiertes Vorgehen legaler und illegaler Kräfte und Mittel, u.a. Angst machender, verunsichernder Terroranschläge mit vielen Toten und Verletzten, zugleich sozialstaatlich angelegter Konzepte legalistischer Partei- und Organisationsstrukturen (Sozialdemokratische und Kommunistische Partei und entsprechende Gewerkschaften), konnte das außerparlamentarische anarchistische Modell schließlich abgeblockt und in ein Außenseiter- und Nischendasein abgedrängt werden.
Die noch fragile Bewegung der Anarchisten fand keine adäquaten Antworten darauf. Dort grassierten bald Spaltpilz und ideologische Grabenkämpfe. Ein Teil der Alten, die im Untergrund oder im Exil gelebt hatten, setzte mit seinen Vorstellungen dort an, wo er seinerzeit aufhören musste. Der Arbeiteranarchismus und seine Kultur der moralischen Reinheit und Prinzipien-Strenge ließ meiner Ansicht nach nur wenig Spielraum für Experimentelles. Für die Altanarchisten waren die kulturellen Eskapaden der Jungen geradezu skandalös: Rockmusik, Drogenkonsum, freie Liebe usw. Die Rahmenbedingungen waren eben nicht mehr dieselben. Europa und die Welt hatten sich weiterentwickelt. Viele Freiheiten, die das gesellschaftliche Leben betrafen, sind inzwischen in den bürgerlich-liberalen Gesellschaften Westeuropas Allgemeingut geworden. Dafür musste nicht mehr gekämpft und gelitten werden. Der modernisierte Kapitalismus hatte menschlichere Züge angenommen, mit materiellem Wohlstand, flachen Hierarchien, mehr Bildungschancen und einem immer größeren Dienstleistungssektor. Im Rahmen des europäischen und globalen Kapitalismus waren libertäre Sonderwege einzelner Gesellschaften aber wohl schwer möglich.
Der Spagat, diesen Hintergrund mit historischem Material zu illustrieren, aber den Fokus auf die Freuden des historischen Aufbruchs nach 1975 zu lenken, ist den Filmemachern mit El Entusiasmo meines Erachtens gelungen. Zeitzeugen steuerten unzählige Bild-, Film- und Musiksequenzen aus den vergangenen Jahrzehnten bei. Die Spannung des Films wird durch die regelmäßig eingestreuten Passagen mit sich zu den Sequenzen äußernden Protagonist:innen erzeugt. Dieser authentische Blickwinkel belebt den Film enorm. Dynamisch, aber in nachvollziehbaren Ausschnitten serviert, mit gut eingesetzter Musik, hat dieser Dokumentarfilm keine Sekunde gelangweilt. Das Engagement und die Sympathie von Machern und Beteiligten ist durchgängig deutlich spürbar.
Aber beim Zusehen macht sich auch Melancholie bemerkbar, wegen dem, was hätte sein können, und dem, was daraus geworden ist: In Spanien Mitte bis Ende der 1930er, dann wieder ab Mitte der 1970er Jahre, aber auch hier und heute in Osteuropa. Sind die Anarchist:innen wieder einmal an der Machtfrage gescheitert? Ich glaube „ja, aber…“, denn sie sind stets auch eine Avantgarde der Demokratie, die auslotet, was in der jeweiligen historischen Situation lebbar ist. Und was dann politisch machbar ist, ist der gesellschaftspolitischen Gesamtkonstellation geschuldet. Der Krieg in der Ukraine erzeugt einen Eindruck davon, wie sehr politisch-soziale Errungenschaften bedroht sein können. Das enorme destruktive Potential der politischen Rahmenbedingungen, unter denen die freiheitlichen Kräfte vor dem Zweiten Weltkrieg agieren mussten, lässt sich nur erahnen, und so sind ihre Leistungen umso mehr zu würdigen. So mein Resümee des Films!
Rolf Raasch
Quelle: espero Nr. 6, Januar 2023, S. 268-270.